Weihnachten (24. Dezember)

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„Ich... Ich glaub', ich kann nicht mitgehen.", seufzt Henry, als ich hinter ihn trete. Er steht vor dem Spiegel in seinem Zimmer und hält sich abwechselnd ein rot kariertes und ein schlichtes blaues Hemd vor den Oberkörper. Ich lache und küsse seine Schläfe. „Wo hast du deine schwarze Jeans?", erwidere ich pragmatisch und ziehe etwas aus seinem Kleiderschrank. Er nimmt den dunkelgrünen Strickstoff mit zweifelndem Blick entgegen. „Meinst du nicht, bei einem Rollkragen denken alle, dass ich einen Knutschfleck verstecke?" Er hält sich wiederum den Pullover vor die Brust und betrachtet sich unschlüssig. Ich nähere mich von hinten seinem Hals und küsse eine Stelle unter seinem Ohr. „Tust du vielleicht auch.", raune ich ihm zu und fahre mit meinen Zähnen vorsichtig über seine weiche Haut. Blitzschnell fährt er herum und drückt sich mit einem Arm von sich. „Gabriel!", entrüstet er sich. „Kannst du vielleicht ein bisschen hilfreicher sein?" Ich zucke grinsend die Schultern. „Dann musst du eine Show draus machen. Solange warten, bis du meinst, dass alle von der Knutschfleck-Theorie überzeugt sind. Und dann ziehst du den Pulli aus." Ich reiche ihm ein schwarzes T-Shirt für unter dem Pullover. Er verdreht die Augen, lächelt mich dann aber an, als er das Hemd, das er trägt, über den Kopf abstreift und in das Shirt schlüpfen will. Ich kralle mich in den Baumwollstoff und ziehe es ihm wieder aus der Hand. Kurz liegt sein irritierter Blick auf mir, bevor meine Hände seine Flanken berühren und meine Lippen zurück an seinem Hals sind. „Warte noch mit dem Anziehen."

Henry ist sichtlich nervös. Er nestelt an der Frischhaltefolie über dem Keksteller herum, den er zusammengestellt hat. „Hallo, wir können doch nicht mit leeren Händen aufkreuzen!?", hat er sich beschwert und noch drei Sorten Plätzchen gebacken. Mich hat er in der Zeit losgeschickt, um „einen Wein oder sowas" zu besorgen. Wie sehr er sich sorgt, ob meine Eltern ihn mögen, ist wirklich allerliebst. „Aber haben sie wirklich keine Einwände, wenn du mich mitbringst?", hat er zum fünften Mal gefragt, als wir aus dem Bus gestiegen sind. „Süßer, sie haben dich eingeladen. Explizit. Glaub mir.", habe ich ihm wiederholt versichert. Wie er nur vor der Tür meines Elternhauses steht, Augen so groß wie die eines Rehs im Scheinwerferlicht, will ich ihn einfach nur umarmen.

Die Tür wird aufgerissen und uns schlägt Weihnachtsmusik und der Duft von Eintopf entgegen. „Nein, nicht Lorbeer, Nelken!", ruft meine Mutter den Flur hinab, bevor sie sich uns zuwendet und über das ganze Gesicht zu strahlen beginnt. „Gabriel, Henry, wie schön!", freut sie sich und nimmt Henry den Keksteller aus der Hand, nur um ihn mir aufzuladen und meinen Freund in eine Umarmung zu ziehen. „Toll, dass du mitgekommen bist, jetzt lernen wir dich endlich mal kennen!", verkündet sie und ich bin ihr unheimlich dankbar, dass sie genau das Richtige sagt, um Henrys Bedenken etwas zu schmälern. Eigentlich ist es sonderbar, dass sie sich nicht kennen, doch immer, wenn meine Familie mich besucht hat, ist Henry schnell in seinem Zimmer verschwunden, um uns nicht zu stören.

In der Küche folgt eine sonderbare Begrüßung mit meinem Vater, der mir auf die Schulter klopft und Henry mit einem gebrummten „Soso" die Hand schüttelt. „Oh, mach' dir keine Sorgen, Papa ist zu jedem so.", flötet die Stimme meiner Schwester hinter uns und dann hält sie Henry die Hand hin. „Tina.", sagt sie nur und sieht dabei viel hochnäsiger aus, als ich sie in Erinnerung habe. Dann zwickt sie mir in die Wange, wie unsere Großmutter das früher bei uns gemacht hat, und ich schlage ihre Hand weg. „Dir sind ja doch noch Brüste gewachsen.", ärgere ich sie und sie verdreht die Augen. Der Altersunterschied zwischen uns ist ungewöhnlich groß und sie wächst gerade aus der Pubertät heraus, weswegen ich ihr gegenüber immer in ein kindischeres Verhalten zurückfalle. Henry guckt mich aus großen Augen an und ich lache, versuche ihm zu zeigen, dass das hier alles normal ist und er sich keine Sorgen machen muss.

Als wir dann Mamas Eintopf essen, scheint Henry sich zu entspannen und legt die Hand über meine, die ich unter dem Tisch auf seinem Oberschenkel platziere. Mama fragt ihn über seine Familie aus und als er von seinem Job erzählt, mischt sogar Papa sich kurz ein. Tina schneidet mir währenddessen über den Tisch hinweg nur fiese Grimassen. Ein wenig später nehme ich eine Bewegung neben mir wahr und muss darüber schmunzeln, dass Henry seinen Pullover ausziehen möchte. Gebannt lasse ich meinen Blick auf ihm ruhen und mustere seine Bewegungen, in denen er plötzlich stecken bleibt. „Oh, warte, ich helf' dir.", sage ich schnell, bevor er in Panik gerät, und packe den Pullover am Saum. Als er ihn mir aus den Händen nimmt, zupfe ich sein Shirt zurecht, dass hochgerutscht ist, nicht ohne mit den Rückseiten meiner Finger die nackte Haut an seinem Bauch zu streifen. Und dann fahre ich ihm - nicht dass es bei seinen Locken nötig wäre - durch sein Haar, wie um es zu richten. Lächelnd lehne ich mich zu seinem Ohr vor. „Du bist so heiß, Baby.", murmele ich und betrachte mit Genugtuung, wie ihm die Röte ins Gesicht steigt. Er räuspert sich und starrt in seinen Teller, als ich einen Kuss auf seine Wange drücke. „Wer flüstert, der lügt!", ereifert sich Tina. Ohne hinzusehen, werfe ich eine Mandarine nach ihr. „Halt die Schnauze, Tina.", grummele ich. Und drücke Henrys Hand unter dem Tisch. „Ich hab' nicht gelogen."

Oh, Henry (boyxboy)Where stories live. Discover now