Der schönste Mann der Welt. (11. Oktober)

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Henrys Sicht:

Gabriel ist der schönste Mann der Welt. Oder eigentlich ist es falsch von mir, das zu denken, denn meine Wahrnehmung ist verzerrt. Ich bin zum ersten Mal verliebt – wenn ich von meinem Mathelehrer in der siebten Klasse absehe, der glücklich verheiratet war.

Ich weiß gar nicht, wann es mir aufgefallen ist. Als er mir nur in seinem Bademantel zum ersten Mal die Tür geöffnet hat, habe ich durchaus registriert, dass er schön ist, sehr sogar. Aber da war es noch eine eher objektive Betrachtung. Dann haben wir uns unterhalten. Wo ich vorher gewohnt hätte, hat er wissen wollen, und was das für ein Job sei, für den ich in die Stadt zöge.

Ich wollte dieses Zimmer, das habe ich gewusst, bevor ich es gesehen habe. Er war mir einfach so sympathisch, wie er von Anfang an so getan hat, als würde er meine Nervosität gar nicht bemerken. Und gerade deshalb habe ich nicht gewollt, dass er direkt ein schlechtes Bild von mir hat. „Ich arbeite bei einem Verlag.", habe ich nur gesagt. „Dann bist du Lektor oder so?", hat er gefragt und als ich den Kopf geschüttelt habe, sind seine Augen groß geworden. „Du bist Schriftsteller?", hat er gestaunt, als sei das irgendwie beeindruckender oder komplizierter als das andere. Ich habe zögerlich den Kopf hin und her gewiegt. „Kann man nicht wirklich so nennen, wir machen Schulbücher.", habe ich zugegeben, weil das wirklich lange nicht mehr so seriös klingt. Aber Gabriel hat trotzdem so getan, als sei das ein interessanter Beruf in seinen Augen. „Was schreibst du da so? Bist du für ein bestimmtes Fach verantwortlich?" Na toll, habe ich gedacht. Ausgerechnet, wenn ich versuche, gut vor jemandem dazustehen, findet er es plötzlich total interessant, womit ich mein Geld verdiene. Mit gesenkten Kopf habe ich ihm Antwort gegeben: „Ich entwerfe Matheaufgaben für die höheren Klassen." „Wow, dann bist du so eine Art...", hat er direkt geantwortet. Was?, habe ich gedacht, irgendein Word erwartet, wie Streber, Nerd, oder was sie mich in der Schulzeit noch genannt haben. Aber Gabriel sagt: „Genie."

Vielleicht war das der Moment. Als ich gemerkt habe, wie er tatsächlich Respekt vor mir hat und dem, was ich tue. Oder es ist einfach passiert, als er mich angegrinst hat, weil ich seinem Lächeln ohne Weiteres magische Kräfte zusprechen würde. Vielleicht kam es auch erst nach und nach, beim Zusammenleben mit ihm. Seiner kindlichen Freude über alles, das ich gekocht habe.

Jedenfalls ist es passiert und ich kann noch immer nicht fassen, dass es ihm scheinbar nicht so anders geht. Ich habe nicht die Erwartung gehabt, alleine alt werden zu müssen, denn ein paar Qualitäten habe ich schon vorzuweisen. Aber halbwegs passabel kochen zu können, ordentlich zu sein und nicht auf den Kopf gefallen, kann doch lange nicht mithalten damit, der schönste Mann der Welt zu sein. Und in Gabriels Fall wiegt er mit seiner Schönheit keinen Mangel an Verstand oder Charakter auf. Er ist einfach wunderbar, außen und innen und überall dazwischen. Und ich liebe, wie er mit mir umgeht, so ganz anders, als ich es gewöhnt bin.

Seit er mich vor über drei Wochen geküsst hat, ist nicht mehr viel in der Richtung passiert. Gabriel wirkt sehr vorsichtig mit mir. Immerhin weiß ich, dass er schon unheimlich viel Erfahrung hat und für ihn wäre es sicher kein Problem, die nächsten Schritte alle auf einmal zu machen, aber er scheint sich ein wenig zurückzuhalten für mich. Spätestens seit der peinlichen Sache beim letzten Filmeabend weiß er sicher, dass ich noch absolut nie vorher mit jemandem zusammen war. Ich finde es gut, dass er Rücksicht nimmt, aber nachdem ich zu spüren gekriegt habe, was alles möglich ist, will ich gar nicht mehr warten. Selbst wenn das für ihn vielleicht nur ein Experiment ist oder er ein bisschen Mitleid mit mir hat, weil ich ein wenig einsam wirke in der fremden Stadt, ist der schönste Mann der Welt bereit, mich zu küssen, mich so zu küssen. Und ich will mehr, solange ich das kriegen kann.

Es ist Mittwochabend und schon ziemlich spät. Seit Stunden kann ich nicht schlafen, nur deshalb konnte ich hören, wann im Wohnzimmer das Licht ausgegangen ist. Gabriel ist seit zwei Stunden in seinem Zimmer und wenn er nicht noch liest, schläft er vielleicht. Nachdem ich mich schon viel zu lange herumwälze und mich mit Gedanken matere, wie man es wohl richtig anstellt, jemanden zu verführen, der sowas einfach nicht nötig hat, stehe ich auf und tapse barfuß über den Flur zu seiner Zimmertür. Leise klopfe ich an, damit er es nur mitkriegt, wenn er noch wach ist. „Henry?", höre ich ihn von innen fragen und öffne die Tür. Bevor ich mir überlegen kann, was ich sagen soll, weshalb ich nur in Schlafshirt und Unterhose in seinem Zimmer stehe, hilft er mir. „Kannst du nicht schlafen?" Ich sehe ihn ein Lesezeichen zwischen die Seiten legen und sein Buch zuklappen. Ich nicke in der gedämpften Helligkeit seiner Nachttischlampe. Immerhin stimmt es ja, das konnte ich wirklich nicht. Zu meinem Glück hebt er seine Decke an. „Dann komm her, Liebling. Du kannst immer zu mir ins Bett kommen, wenn du nicht schlafen kannst." Dankbar krabbele ich neben ihn auf die Matratze und achte auf einen kleinen Abstand zwischen uns. Wir haben seit der ersten Nacht nicht mehr gemeinsam in einem Bett geschlafen, aber seine Wärme neben mir fühlt sich wunderbar an, ganz beruhigend. Fast könnte ich mir vorstellen, nun wirklich einfach einzuschlafen, vor Allem, als er von seiner Seite aus den Arm um meinen Oberkörper schlingt, aber noch immer gehen mir zu viele Ideen durch den Kopf.

Oh, Henry (boyxboy)Where stories live. Discover now