Seokjin wurde von einem leisen Klopfen geweckt. Das Licht fiel ihm unangenehm stark ins Gesicht. Er hatte wohl wieder vergessen die Vorhänge zu schließen.
Die dreckige Mütze hatte er noch Fest im Griff und grummelnd richtete er sich auf, als das Klopfen einfach nicht aufhörte.
Die Mütze ließ er auf dem Kopfkissen liegen und machte sich auf den Weg zum Fenster.
Der Schwarzhaarige zog eine Augenbraue hoch.
Auf der Fensterbank sprang ein kleines Rotkehlchen hin und her und klopfte mit dem Schnabel gegen das Fenster.
Seokjin klopfte mit seinen Fingerknöcheln gegen das Glas und hoffte den Vogel damit zu verscheuchen. Doch er hüpfte nur wenige Zentimeter zur Seite und klopfte.
Seokjin versuchte es erneut, doch der Vogel wollte seinen Schnabel einfach nicht halten. Einige Male schlug er gegen das Fensterglas, aber der Vogel blieb.
Genervt öffnete Seokjin das Fenster einen Spalt. Der Vogel machte sich gleich auf den Weg Richtung Öffnung. Doch Seokjin schubste ihn nur mit der Hand vom Fensterbrett.
Er sah zu, wie der Vogel in der Ferne verschwand und endlich war es still.
Schlafen konnte er trotzdem nicht und so stellte er sich unter die Dusche und machte sich für seine Schicht im Laden bereit.

Auch am nächsten Morgen wurde er von Klopfen geweckt und den darauf folgenden Tag auch.
Immer wieder verscheuchte er den hartnäckigen Vogel.
Doch am vierten Tag war es kein Klopfen, was ihn weckte, sondern ein hohes Zwitschern.
Erschrocken wich Seokjin hoch. Kerzengerade saß er im Bett und sah zum Fenster.
Der kleine Vogel war nicht dort, doch als er ein erneutes Zwitschern hörte, schnellte sein Kopf Richtung Nachtschränkchen.
Der Vogel saß dort und pickte die Krümmel aus seiner Tüte Studentenfutter.
Er hatte gestern vor lauter Müdigkeit vergessen, dass er einen morgendlichen Besucher hatte, und hatte wohl das Fenster geöffnet.
Nun hatte sein Besuch sich in seine Wohnung geschlichen und aß ihm das Essen weg.
Seokjin wollte aufspringen, den Eindringling aus seiner Wohnung verscheuchen, doch dieser hüpfe an den Rand des Schränkchens und sah Seokjin mit seinen runden, dunklen Augen an.
Als er sich auf dem Weg zur Arbeit machte, war der Vogel weg.
Und als er wieder kam, stellte Seokjin eine Schüssel Wasser neben die Nusskrümmel und öffnete das Fenster.
Es war komisch, wie schnell der Schwarzhaarige sich an die Anwesenheit des Vogels gewöhnt hatte, der ihn nun jeden Morgen durch die Wohnung begleitete.
Er hatte sogar länger gebraucht sich an seine menschliche Haarfarbe zu gewöhnen.
Der Vogel flog durchs Wohnzimmer, als er es das erste Mal in Monaten aufräumte, saß auf einem der Hängeschränke, als er das erste Mal seit Namjoons Tod etwas frisches zu Essen kochte. Er zwitscherte ihm ins Ohr, wenn er vergessen hatte sich einen Wecker zu stellen.
Jeden Schritt den er in seiner Wohnung ging, das Rotkehlchen begleitete ihn.
Er kaufte sogar Vogelfutter, um es in seiner Wohnung hinzustellen und bereitete seinem neuen Mitbewohner ein kleines Bad.
Sein Fenster stand jede Nacht offen.
Ihm war es schon fast peinlich, dass es ein kleiner Vogel war, der ihn langsam zurück ins Leben holte. Er wusste nicht warum, aber immer wenn er das helle Zwitschern hörte, war sein Herz für einen kurzen Moment nicht mehr ganz so schwer.
Vielleicht lag es auch daran, dass er endlich nicht mehr allein in der Wohnung war. Er war nichtmehr allein mit seiner Trauer und all den Erinnerungen.
Er hatte nun jemanden, der ihm Gesellschaft leistete.
Manchmal sprach Seokjin sogar mit ihm.
Wenn er die Einkäufe ausräumte und anfing zu sprechen, flog der Vogel von seinem Platz auf dem Schrank zu seiner Schulter, um ihm dort beim Auspacken zuzusehen. Wenn Seokjin ihm dann einen kleinen Snack reichte, verschwand er jedoch wieder an seinen ursprünglichen Platz.
Es tat gut zu reden. Es war gut etwas zu sagen, was nicht den Worten: „Danke für ihren Einkauf." ähnelte. Auch wenn er sich etwas Armselig vorkam bei dem Gedanken, dass ein Vogel sein einziger Gesprächspartner war.
Er erzählte ihm von unhöflichen Kunden, der kratzigen Uniform und der lauten Klimaanlage. Und manchmal, wenn er sich stark genug fühlte, da erzählte er dem kleinen Vogel von Namjoon.
Endlich konnte er lächeln, wenn er von seinem Geliebten sprach. Endlich konnte er jemandem erzählen, was für eine tolle Person er war und wie sehr er ihn liebte. Jemand hörte ihm zu und er konnte all die schönen Erinnerungen wieder auffrischen.
Erst jetzt wurde ihm klar, dass Namjoon ihm nicht nur Trauer hinterlassen hatte.
Eines Tages ging er das erste Mal in Jahren spazieren. Der kleine Vogel flog vor und landete immer einige Meter weiter, um auf ihn zu warten.
Plötzlich hatte er sich auf seine Schulter gesetzt und ihn an den Hals gepickt. Erschrocken war Seokjin zur Seite getaumelt und nur wenige Sekunden später rauschte ein kleines Mädchen auf einem Fahrrad nur knapp an ihm vorbei.
Erstaunt sah er dem Vogel hinterher, der sich von seiner Schulter erhoben hatte und wieder einige Meter vorflog. Der Schwarzhaarige konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Manchmal dachte er darüber nach, was wäre, wenn der kleine Vogel eines Morgens nicht mehr zurück kommen würde. Er konnte sich nicht vorstellen das kleine Geschöpf eines Tages nicht mehr an seiner Seite zu haben.
Es war wie sein Anker in dieser großen, chaotischen Welt, in der er sich einfach nicht zurecht fand.

Wings || NamjinWhere stories live. Discover now