Gestern, als sie ins Bett gegangen war, hatte sie noch keinen Muskelkater gehabt, doch jetzt machte er sich deutlich bemerkbar. Ächzend stand sie auf. Schwarze Punkte erblühten vor ihren Augen und durch ihren Kopf zog sich ein gewaltiger Schmerz. Sie griff sich an die Schläfen und kniff die Augen zu. Für einen kurzen Augenblick glaubte sie zurück auf das Bett zu fallen, sie taumelte kurz, fing sich dann aber wieder. Der Schmerz, der in ihrem Schädel pochte war etwas abgeflaut und auch die schwarzen Flecken waren entschwunden. Sie ging vorsichtig zu ihrem Kleiderschrank, kramte nach neuen Anziehsachen und machte sich auf den Weg ins Badezimmer. Als sie an der Küche vorbei kam warf sie einen Blick auf ihren Sitzplatz. Es lag kein vorgefertigtes Essen dort. Sehr gut. Naja, zumindest noch nicht, denn ihre Mutter war gerade dabei etwas, anscheinend eine Brötchenhälfte, zu beschmieren. Sahra betete, dass das nicht für sie gedacht war.
Doch wurden ihre Gebete nicht erhört. Kaum hatte sie das Bad wieder verlassen und war in die Küche gegangen, lagen zwei Brötchenhälften, die eine mit Marmelade, die andere mit Nutella beschmiert, auf Ihrem Teller. Alleine das zu sehen reichte aus, um in ihr Wut hochkochen zu lassen. Warum zur VERFICKTEN HÖLLE ließ ihre Mutter sie nicht einfach in Ruhe?! Was war ihr Scheiß Problem, dass sie sie jetzt immer zum Essen zwingen wollte?! Sie starrte erst den Teller, dann Marlene böse an. Als sie sprach versuchte sie ruhig zu bleiben, was schwierig war, da sie gerade am liebsten einen Tobsuchtsanfall gehabt hätte.
„Ich esse morgens Obst", sagte sie.
Obst", betonte sie noch einmal. Marlene, die an der Küchentheke lehnte, seufzte. „Heute wirst du aber bitte das hier essen." Sie zeigte auf Sahras Platz. „Formal du gestern ja nichts mehr mit mir zu Abend gegessen hast." Sie wurde immer wütender. „Ich. Esse. Morgens. Obst", knirschte sie mit aufeinander gepressten Zähnen. „Und das weißt du." Marlene schüttelte den Kopf. „Heute aber nicht. Und jetzt bitte, komm setz dich und iss." Kurz verharrte Sahra noch in der Tür, dann stampfte sie zu ihrem Stuhl, ließ sich übertrieben laut darauf fallen und knallte die Hände auf den Tisch. Sie starrte ihre Mutter weiter böse an, dann blickte sie zu den beiden Brötchenhälften. Marmelade und Nutella. Und das musst du sie jetzt essen. Nein! Das Nutella Brötchen würde sie nicht anrühren, das stand außer Frage! Mit leicht bebender Hand ergriff sie die Marmeladenhälfte. Marlene beobachtete jede ihrer Bewegungen. Sie führte das Brötchen zum Mund, hielt dann aber inne.
„Ich muss meine Tasche noch packen", flüsterte sie.
„Was?", fragte Marlene nach. Sie hatte ihre Tochter nicht verstanden.
„Ich muss meine Tasche noch packen!", schrie Sahra schon fast und sah mit einem so zornigen Blick zu ihrer Mutter, dass, wenn Blicke töten könnten, diese auf der Stelle tot umgefallen wäre. Marlene atmete einmal durch, dann sagte sie ruhig: „Erst isst du, danach kannst du deine Tasche packen." Noch einmal warf Sahra ihrer Mutter einen vernichtenden Blick zu, dann blickte sie wieder auf das Brötchen. Scheiße noch eins, wie sollte sie es schaffen weiter abzunehmen, wenn sie jetzt auch noch Marmelade essen musste?
„Ist okay", funkte Ana zwischen ihren wütenden Gedanken. „Du weißt doch noch, was wir abgesprochen hatten. Wenn es die Umstände nicht anders zulassen und es absolut keinen Ausweg gibt, dann musst du wohl oder übel essen. Wenn es nicht anders geht, muss es eben so sein. Aber dafür musst du was zum Ausgleich machen. Und du weißt auch was. Entweder Sport oder, falls Sport nicht geht, umherlaufen. Hauptsache du verbrennst die Kalorien wieder." Innerlich nickte sie Ana zu. Dann biss sie zögernd in das Brötchen. Sie aß sehr langsam, kaute jeden Bissen unnötig oft und trank viel Saft dazwischen. Ja, Saft. Ihre Mutter hatte ihr auch noch ein kalorienhaltiges Getränk aufgezwungen. Fast sieben Minuten brauchte sie für die eine Hälfte, dann starrte sie die mit Nutella an. Nutella! Das konnte sie unmöglich essen! Ihr Blick zuckte wieder zu ihrer Mutter.
„Ähm...", sagte sie. „Muss ich das jetzt noch essen? Ich äh, bin wirklich satt." Sie lehnte sich zurück, wobei ihr Shirt leicht nach oben rutschte und so einen kleinen Teil ihres Bauchs offen lag. Ihres aufgeblähten, runden, fetten Bauchs. Widerlich, absolut widerlich.
„Die andere Hälfte isst du trotzdem." Marlene hatte die Arme verschränkt und sah ihre Tochter mit festem Blick an. Sahra überlegte. Was könnte sie noch sagen, damit sie die Nutella nicht essen musste? Niemals würde sie Nutella essen! Irgendwie musste sie es schaffen sich hier heraus zu manövrieren.
„Äh, aber", setzte sie wieder an, „ich bin echt richtig satt. Mir ist schon fast ein wenig schlecht, ich schaffe das da wirklich nicht mehr." Sie wies auf ihren Teller. Doch ihre Mutter sah sie weiterhin an und sagte: „Du isst das jetzt aber trotzdem."
Eine neue Woge der Wut überschwemmte Sahra und sie giftete Marlene sofort zornig an: „Willst du, dass ich kotzen muss?!" Sie verschränkte ebenfalls die Arme und funkelte ihre Mutter böse an. Kurz herrschte Stille in der Küche, dann stieß Marlene laut die Luft durch die Nase aus.
„Gut", sagte sie. „Aber wenn du es schon nicht isst, dann nimmst du es zumindest mit in die Schule. Dann isst du es dort." Sie drehte sich um und holte eine Brotdose aus einem der Küchenschränke hervor. Sahra atmete erleichtert auf. Ein Glück, sie musste das Nutella Brötchen nicht essen. Das wäre wirklich das Schlimmste gewesen, was hätte passieren können. Und wenn sie das Brötchen mit in die Schule nahm konnte sie es auf dem Weg dahin ganz leicht entsorgen. Diese Situation hatte sie überstanden. Sie stand auf.
„Kann ich jetzt meine Tasche packen?", fragte sie, noch immer leicht angepisst.
„Ja", antwortete ihre Mutter knapp. Sahra verließ hastig die Küche und knallte die Tür hinter sich zu. In ihrem Zimmer suchte sie sich ihre benötigten Schulmaterialien zusammen und verstaute sie in in ihrer Mappe, dann ließ sie sich auf die Couch fallen.
Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Sie hatte etwas gegessen. Die war gezwungen gewesen etwas zu essen. Und dann auch noch ein halbes Brötchen mit Marmelade!
Warum? Wütend ballte sie die Hände zu Fäusten. Warum?! Ihre Fingernägel bohrten sich in ihre Haut. WARUM?!
Sie begann voller Zorn auf das ihr Nächstliegende Kissen einzuschlagen. Immer wieder versenkte sie ihre Faust in dem weichen Stoff und gab unterdrückte Schreie von sich. WARUM ZUR VERFICKTEN HÖLLE NOCH EINS?! Sie packte das Kissen und schleuderte es durch den Raum. Es klatschte gegen die Wand und fiel mit einem Rascheln zu Boden. Sie schnappte sich das nächste Kissen und pfefferte es in die selbe Richtung. Als sie ein anderes Kissen griff und auch dieses werfen wollte trat Ana vor sie. Sahras Arm erstarrte in der Luft.
„Ganz ruhig, ja?", sagte Ana besänftigend. „Ganz ruhig."
„Ach halt die Klappe!", schrie Sahra in ihrem Kopf und schmiss das Kissen in ihrer Hand nach ihr. Es flog geradewegs durch ihren Oberkörper hindurch, traf die Wand und gesellte sich zu den anderen auf den Boden. Ana umschloss Sahras Handgelenk und drückte ihren Arm runter.
„Kissen zu schmeißen wird dir nicht viel helfen", sagte sie ruhig. Die andere Hand legte sie auf Sahras Schulter. „Jetzt nicht gleich durchdrehen. Das ist noch lange kein Weltuntergang. Du weißt doch, was du nach solch einer Situation tun musst. Einfach die Kalorien verbrennen, dann ist alles wieder gut, ja?" Sahra atmete tief durch. Dann vergrub sie das Gesicht in den Händen und nickte. Ja. Sport. Sport musste sie machen, Kalorien verbrennen. Ganz ruhig Sahra. Wie Ana bereits sagte, das ist kein Weltuntergang. Das war nur ein unerfreuliches Zwischenereignis. Jetzt einfach noch so viel Sport wie möglich machen und den Rest des Tages fasten. Das musste sie hinbekommen.
„Und du musst noch aufschreiben wie viele Kalorien dein Essen gerade hatte", warf Ana noch ein. Sie nickte erneut. Ja, das musste sie auch noch machen.
Von ihrem unordentlichen Schreibtisch nahm sie ihr Esstagebuch, welches sie ziemlich billig unter einem bekritzelten Blatt Papier versteckt hatte und den Kugelschreiber noch dazu. Sie müsste sich eigentlich ein besseres Versteck für das Buch ausdenken, überlegt sie. Was, wenn ihre Mutter es fand? Dann wäre ganz schnell Schluss mit Abnehmen. Sie schob diesen Gedanken vorläufig beiseite. Darum konnte sie sich nachher kümmern, jetzt mussten erst einmal die Kalorien aufgeschrieben werden. Sie klickte mit dem Kugelschreiber. Wie viele Kalorien hatte ein halbes Marmeladenbrötchen? Kurz überlegte sie, dann entschied sie sich dazu Google zu befragen.
Ungefähr Einhundertundfünfzig Kilokalorien. Das trug sie für den heutigen Tag ein, dann schloss sie das Büchlein wieder. Gut, jetzt konnte sie sich ein Versteck überlegen. Nur wo? Sie scannte den Raum. Unterm Kopfkissen? Das wäre wirklich das unkreativste Versteck überhaupt. Da würde jeder zuerst nachgucken. Sie ließ den Blick weiter schweifen. Vielleicht könnte sie es ja einfach zu ihren Schulsachen legen. Ein Buch zu anderen Büchern. Doch das war ihr zu riskant. Ein kleines blaues Notizbuch fiel zwischen Schulbüchern und Heftern schon ziemlich auf. Dort passte es nicht hin. Wäre es ein Schreibblock, ein Collegeblock gewesen, dann wäre es was anderes, aber so, nein. Sie überlegte weiter, Ana neben sich ignorierend. Ein Buch zwischen anderen Büchern... Da kam ihr eine Idee. Das Bücherregal! Da könnte sie ihr Notizbuch einfach dazwischen stecken und fertig. Klar, das war ziemlich öffentlich, aber neben den ganzen anderen Büchern würde es gar nicht auffallen. Vor allem dann nicht, wenn sie es nach ganz unten stellen würde. Da wurde die Sicht durch das darüber liegende Brett versperrt, sodass man die Bücher ganz unten nicht direkt sehen konnte. Erst, wenn man sich bückte. In den unteren Regalfächern bewahrte sie ihre ausgelesenen Bücher auf, die sie nicht weggeben wollte, zusammen mit den Büchern, die sie für die Schule gelesen hatte. Sie trat vor ihr Regal, kniete sich hin und schob das Buch zwischen eine Ausgabe von Romeo und Julia, was sie letztes Jahr in Deutsch behandelt hatten und einem Band von Warrior Cats, Das Gesetz Der Krieger, was ebenso blau war wie ihr Notizbuch. Perfekt. Hier würde es bestimmt nicht auffallen. Sie kehrte zur Couch zurück.
„Und jetzt", sagte Ana, „Sport."
„Ja."
Zwar hatte sie nur noch ein paar Minuten, aber die musste sie so gut es ging nutzen. Sie stand wieder auf, brachte sich in Position und begann auf der Stelle zu rennen. Sie versuchte so schnell wie möglich zu sein um in der verbleibenden Zeit noch so viel wie möglich zu verbrennen.

Einmal Ana, immer Ana.Where stories live. Discover now