„Neunundvierzig, Fünfzig", stöhnte Sahra und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. Kniebeugen waren verdammt anstrengend. Ihr war heiß. So heiß, sie trug nur einen Sport BH und eine kurze Stoff Hot Pants. Und natürlich Unterwäsche. Ana saß auf ihrem Schreibtischstuhl und applaudierte ihr. „Super Sahra, sehr gut. Und jetzt Sit Ups. Dreißig Stück." Sahra ging keuchend zur Couch hinüber und begann mit der Übung. Eins, zwei. Das Fenster stand offen und ließ kalte Luft in den Raum ziehen, die Sahras Haut etwas kühlte. Schwer atmend machte sie weiter. Sieben, acht. Ihr klebten vor lauter Schweiß einige Haare an der Stirn, trotz der Tatsache, dass sie sich einen Pferdeschwanz gemacht hatte. Elf, zwölf.
Doch plötzlich hörte sie Schritte. Schritte, die sich ihrem Zimmer nährten. Sie stockte. Es klopfte an ihrer Tür und noch bevor sie etwas rufen konnte, öffnete diese sich und ihre Mutter trat herein.
Sie erstarrte und blickte ihre Tochter verwundert an, wie sie dort in kurzen Sportklamotten auf der Couch lag, mit angewinkelten Beinen und hinter dem Kopf verschränkten Armen.
Scheiße...
„Äh, Sahra, was machst du da?"
Scheiße.
„Äh... Ich äh..."
„Sahra! Lüge! Schnell!", rief Ana.
„Ich äh... Also, heute wurde in Sport angekündigt, dass äh... wir bald Leistungskontrolle in äh... im Kraftkreis haben. Also, dann müssen wir verschiedene Übungen wie Sit Ups und Liegestütze auf Zeit machen und ja... Ich wollte halt üben." Sie richtete sich auf und versuchte Marlene möglichst unschuldig anzulächeln. Diese blickte Sahra kurz noch verwundert an, dann lächelte sie auch und sagte: „Ah okay. Du bist ja fleißig." Sahra lachte gespielt.
„Ja, ich äh, will halt gut sein."
„Du weißt aber, dass das kein Zwang ist. Es ist nur Sport, da muss man nicht gut drin sein." Sahra zuckte mit den Achseln.
„Ach, naja, ich will aber gut sein." Ihre Mutter nickte. „Okay, na dann. Kommst du essen?" Sahra zögerte. Sollte sie jetzt etwas essen, wo sie gerade doch so gut Sport gemacht hatte? Andererseits hatte sie heute fast gar nichts gegessen, was ja nicht gerade gesund war. Aber dünn sein ist wichtiger als gesund sein. Sie spähte aus dem Augenwinkel zu ihrem Stuhl rüber, doch dieser war leer. Ana war weg.
„Äh... Ich... ja, okay. Komme gleich", sagte sie also.
Sie würde zu Abendessen. Aber nicht so viel. Nur so viel, dass ihre Mutter keinen Verdacht schöpfte. Marlene wollte gerade gehen, doch hielt sie inne. „Ach und mach das Fenster mal zu, es ist echt kalt hier drin." Dann ging sie. Sahra ließ sich nach hinten fallen. Sie war erschöpft. Mit labbrigen Muskeln stemmte sie sich hoch und zog den verschwitzten Sport BH aus. Sie warf sich ein top über und ging in die Küche.
Ihr Abendessen: eine Scheibe Brot mit hauchdünner Butterschicht.
Und obwohl sie immer noch Hunger hatte, verließ sie eilig die Küche und zog sich in den Schutz ihres Zimmers zurück. Hier fühlte sie sich sicher. Sicher vor dem ganzen Essen.
Doch war es alles andere als sicher. Und ein Teil von Sahra, der Teil der unbedingt essen wollte, erinnerte sich an etwas. An gewisse Süßigkeiten, die in ihrem Schrank verstaut waren.

Sie konnte sich im Nachhinein nicht mehr genau daran erinnern, wie es passiert war. Eines hatte zum anderen geführt und so saß sie nun vor ihrem Schrank, all ihre Süßigkeiten auf dem Boden um sich herum verteilt und stopfte sich Nascherei um Nascherei in den Mund. Den alten KinderCountry verschlang sie mit drei Bissen, dann kamen zwei Gummitiere. Sie nahm eine Reihe ihrer Schokoladentafel aus der Packung und schob sie sich im Ganzen in den Mund. Weitere Gummibärchen folgten. Danach Nimm 2 und dann wieder Haribo. Innerhalb kürzester Zeit vernichtet sie fast ihren gesamten Süßigkeitenbestand. Sie konnte sich nicht stoppen. Sie aß und aß und aß immer weiter und weiter. Ihr Bauch schmerzte bereits doch bemerkte sie es nicht. Zu sehr war sie in ihren Fressanfall vertieft. Auch die aufkommende Übelkeit ignorierte sie und biss dem ewig alten Milka Osterhasen ein Ohr ab. Dann das zweite, dann den Kopf. Sie hätte vermutlich auch noch den letzten Rest aufgegessen (Nein, aufgefressen) hätte es nicht plötzlich an ihrer Tür geklopft.
Sie erstarrte, mitten in der Bewegung und die Tür öffnete sich. Marlene streckte den Kopf herein. „Ich gehe jetzt–", sie hielt inne. Verwundert blickte sie zu ihrer Tochter, welche von leeren Süßigkeitenverpackungen umgeben auf dem Boden saß und sie mit großen Augen anstarrte.
„Was machst du denn da?", fragte sie verwundert.
„Äh..."
„Ja Sahra, was machst du da? Was machst du bitte da?!", schrie sie sich selber in ihrem Kopf an. „WAS ZUR VERFICKTEN HÖLLE MACHST DU DA?!"
„Äh..." Sie hatte keine Antwort darauf. „Ich äh..."
„Hast wohl beim Abendessen zu wenig gegessen", lachte Marlene. Sahra schwieg, dann lächelte sie zögerlich.
„Ha ha, ja äh, kann sein." Sie zwang sich zu einem Grinsen. Marlene lächelte. „Na wenn du noch Hunger hast, dann iss noch etwas, da ist ja nichts dabei."
„Äh, ja...", sagte Sahra nervös.
Nein, nein. Nichts mehr essen. Bloß nicht.
„Ich gehe jetzt noch zu ein paar Freunden, okay? Komme wahrscheinlich erst spät wieder." Sie nickte. „Okay." Ihre Mutter zog die Tür zu und wenige Momente später fiel auch die Wohnungstür ins Schloss. Sahra war in ihrer Position eingefroren. Langsam senkte sie den Blick und starrte auf die leeren Verpackungen, die sich um sie drapierten. Geschockt. Sie war geschockt von dem, was sie getan hatte. Sie hatte das alles hier gegessen. Scheiße... Ihre Hände begannen zu zittern. Scheiße... Tränen stiegen ihr in die Augen. Scheiße!!!
Ihre Hände schnellten zu ihrem Gesicht und pressten sich auf Mund und Augen. Sie riss den Mund auf und ein stummer Schrei zerriss ihre Gedanken. SCHEIßE!!! Die Tränen rannen ihr über Wangen und Kinn und sie begann zu schluchzen. Sie zog die Beine an den Körper und drückte das Gesicht in ihre Knie. Sie heulte. Ihre Nase begann zu laufen. Sie heulte noch mehr. Alles, alles zunichte gemacht in nicht einmal einer halben Stunde. Alles wieder angefressen. Alles zerstört, was sie sich doch so mühselig aufgebaut hatte, in den letzten Wochen. Alles...
Sie spürte wie sich zwei Arme um sie legten und sie presste das Gesicht gegen Anas Schulter. Sie heulte lauter. Ana strich ihr über den Rücken.
Als sich Sahra ausgeweint hatte, tätschelte Ana ihr den Kopf.
„Hey, hey, alles gut Sahra, alles ist gut. Es ist noch nicht alles verloren." Sahra wimmerte und starrte sie durch verquollene Augen an. Sie sprang auf.
„Scheiße nein, es ist nicht alles gut!", schrie sie und raufte sich verzweifelt die Haare. Sie begann hektisch im Zimmer umher zu laufen. „Es ist nicht alles gut, ist es nicht! Das ist die totale Katastrophe! Das ist das Schlimmste, was hätte passieren können!" Ihr war es egal, dass sie das alles laut heraus schrie, es war ihr egal, ob sich die Nachbarn wundern könnten, warum es plötzlich Schreie zu hören gab, es war ihr sowas von egal. Sie hatte einen Fressanfall gehabt. Sie hatte fast alle ihre Süßigkeiten gegessen (gefressen). Sie hatte alles, alles missachtet, was Ana ihr gesagt hatte. In ihrer Verzweiflung schlug sie gegen eine Zimmerwand. Sie verzog den Mund zu einem stummen Schrei, als der Schmerz durch ihren Körper jagte. Erneut schluchzte sie auf. Scheiße! Scheiße, scheiße und noch mals Scheiße!!! Sie sah Ana an.
„Was soll ich tun?", flüsterte sie. Ana erhob sich.
„Komm", sagte sie, nahm Sahras Hand und zog sie hinter sich her. Sahra öffnete die Zimmertür und Ana führte sie den Flur entlang ins Badezimmer.

Einmal Ana, immer Ana.Where stories live. Discover now