"Ich finde, es stand dir so besser. Vielleicht solltest du es so tragen!", gab er mir gespielt todernst zu bedenken und ich tat so, als würde ich darüber nachdenken.

"Nein, danke." Ich grinste zuckersüß und erhob mich. Dann bedeutete ich ihm mit einer Handbewegung, sich umzudrehen, damit ich mich umziehen konnte. Er gehorchte mir brav und ich streifte mir das enge Top von meinem Oberkörper, bevor ich sein viel zu großes überstreifte. Unauffällig wurde ich meinen BH los und streckte mich kurz. Dann öffnete ich den Reißverschluss meines Rockes und ließ ihn zu Boden gleiten. Auch die Jogginghose war mir viel zu groß, aber das war ich von ihm schon gewohnt. Kritisch warf ich einen Blick in den Spiegel.

"Fertig."

Mike drehte sich wieder zu mir um, als ich meine eigenen Klamotten ordentlich gefaltet in der Ecke des Raumes abstellte. Sein Blick glitt über meinen Körper.
Dann fing er erneut an zu lachen.
Ehe ich mich versah, röteten sich meine Wangen und ich senkte beschämt den Blick. Mike war die einzige Person, die mich je verlegen oder beschämt sah. Vor Anderen zwang ich mich immer, jegliche Anzeichen von Schwäche zu unterdrücken. Ansonsten würden sie sich das zunutze machen, da war ich mir ziemlich sicher. Allein Candice suchte Tag für Tag nach Schwachstellen.
Dabei nutzte sie auch jede Gelegenheit, mich vor den anderen Cheerleadern zum Affen zu machen. Ich war mir allerdings sicher, dass sie nur Angst hatte, dass ich ihr irgendwann den Posten als Captain streitig machen würde. Immerhin war ich sehr viel flexibler als sie und ich hatte mindestens genauso viel Ahnung vom Cheerleading wie sie. Leider war das aber nicht alles, was den Captain ausmachte. Man musste traurigerweise auch bildhübsch und unvorstellbar reich sein, um die anderen Mädchen auf seine Seite zu ziehen. Candice war beides und noch viel mehr. Manipulativ zum Beispiel.

"Du siehst süß aus, du Zwerg." Mike stand auf und kam auf mich zu. Ohne jegliche Vorwarnung begann er, mich zu kitzeln und ich konnte nicht anders als laut zu quieken und wild zu zappeln, was ihm aber nichts auszumachen schien. Viel schlimmer - er verstärkte seinen Griff um mich und begann weiter, meine Seiten strategisch zu bearbeiten.

"Hör auf!", kreischte ich und begann unkontrolliert zu kichern. Irgendwann hörte er dann auch auf und ich ließ mich entkräftet auf sein Bett fallen. Alles drehte sich. "Du solltest keine besoffenen Teenager kitzeln, du Volltrottel!" Ich warf ihm einen besonders fiesen Blick zu, was ihn allerdings kaum, beeindruckte. Er lächelte.

"Na schön."

Ich rappelte mich auf und verschwand wortlos im Bad, um mir die Zähne zu bürsten Als ich mich im Spiegel betrachtete, sank meine Laune in den Keller. Das Mädchen im Spiegel spannte sich sichtlich an. Ihre blauen Augen leuchteten nicht, sie wirkten trüb und glasig. Ihre dunklen Haare waren vollkommen zerzaust und ihre blasse Haut schien noch viel blasser. Plötzlich spürte ich einen unangenehmen Druck auf meiner Brust. Langsam sank ich auf dem Rand der Badewanne zusammen. Mein Körper bebte, ein Wimmern entfuhr mir. Schnell hielt ich mir die Hand vor den Mund und schloss die Augen.

Wer wäre bitte auf jemanden wie dich eifersüchtig?

Ich wiederholte die Worte innerlich. Immer und immer wieder. Der Druck in meiner Brust wurde immer größer, aber ich zwang mich leise zu sein. Die in mir aufkommenden Schluchzer zu unterdrücken. Ich wollte nicht, dass mich jemand so sah. Dass Mike mich so sah. Zitternd atmete ich tief ein und aus.

Reiß dich zusammen.

Langsam erhob ich mich und trat vor den Spiegel über dem weißen Waschbecken. Was würde Mike nur sagen, wenn er das hier mitbekäme? Nichts, was mir gefallen würde.

Tief durchatmen.

Ich wusch mir mein Gesicht und trocknete es mit einem Handtuch.

Alles ist gut. Alles ist in Ordnung.

Ich strich mir eine von den Tränen befeuchtete Strähne aus dem Gesicht und setzte ein Lächeln auf. Besser. Es sah besser aus.

Weinen steht dir nicht. Verdammt nochmal, du bist Sophie und Sophie weint nicht.

"Sophie?" Mikes Stimme ertönte am anderen Ende der Badezimmertür. "Ich wusste ja schon immer, dass du lange brauchst, aber du musst echt nicht überteiben. Das ist sogar für deine Verhältnisse ziemlich lange."

Ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr. 20 Minuten. 20 Minuten lang war ich hier drinnen gewesen und hatte mit meinen Tränen gekämpft - mit mir gekämpft. Ich biss mir auf die Unterlippe und betete zu Gott und was es sonst da oben gab, dass er mir nicht ansehen würde, was gerade eben noch in mir vorging. In der Schule merkte es sonst auch keiner. Und wenn schon, was interessierte es sie auch. Jemanden wie mich fragte man nicht nach seinem Wohlergehen.
Viele halten diese Welt einfach nur für perfekt, dabei gibt es so viele Ungerechtigkeiten, so viel Unheil, so viel Leid. Den meisten ist das bewusst. Es interessiert sie einfach nicht. Sie blenden es in ihren alltäglichen Tätigkeiten aus. Unwissenheit. Dunkelheit. Finsternis.

"Sophie?" Mike klang beunruhigt.

"Komme." Ich holte tief Luft und bemühte mich, meinen Blick vom Spiegel zu wenden. Und dann stellte ich mich ihm. Mit einem leisen Klicken entriegelte ich die Badezimmertür und trat heraus, die fröhliche Maske auf meinem Gesicht. Die Maske, die verhinderte, dass irgendjemand meine Schwachstellen entdeckte. Dass irgendjemand entdeckte, wie hilflos ich war. Meine Gefühle versenkte ich in den Tiefen meiner Gedanken, in den Tiefen meines Bewusstseins.

"Wurde aber auch Zeit!" Er merkte nichts. Seine Augen blitzten schelmisch und ein spitzbübisches Lächeln zierte seine Lippen. Lässig strich er sich durch die Haare und ging an mir vorbei ins Bad. Er merkte nichts.
Ich ließ mich auf die Couch fallen und griff nach der Decke, die er bereits für mich bereitgelegt hatte. Wortlos machte ich es mir bequem und zog mir den warmen Stoff bis über die Ohren.

"Schläfst du schon?", hörte ich eine verwunderte Stimme, doch ich nahm sie nur nebensächlich wahr. Mein Bewusstsein strömte bereits in die schrecklich sonderbaren Weiten meiner Selbst. Meine Augenlider fielen zu, mein eben noch viel zu schneller Atem wandelte sich zu einem rhythmischen und ich sank in die wundervolle Welt der Träume und Fantasien. Weg, weg von der Realität.
Ade, verfluchte Welt, du Meer ungeachteter Grausamkeiten.

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⏰ Last updated: Mar 20, 2020 ⏰

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