Gefangen

Vier

Sofort war ich hellwach. Die Schwammigkeit in meinem Gehirn wie verflogen.

Der Kuss?

Warum fragte er das? Wir waren doch nur Freunde. Das alles hatte rein gar nichts bedeutet, zumindest mir nicht. Ihm war das sicher auch von keinerlei Bedeutung, oder? Ich sah ihn beunruhigt an.
Er setzte sich auf seinen Schreibtisch und strich sich aufgewühlt durch die Haare. Bis jetzt hatte ich gar nicht gemerkt, wie nah ihm das Ganze kam.

"Mike...Dir ist bewusst, dass es mein erster Kuss war, stimmt's?" Ich biss mir auf die Unterlippe. Irgendwie musste ich mich aus dieser Lage bringen.

Wo ist dieser dämliche Max, wenn man ihn mal braucht?

"Ja, natürlich." Verwirrt blinzelte er mich an. "Deswegen war ich auch so vorsichtig."

Scheisse.

"Ich habe keinen Vergleich.", brachte ich dann vorsichtig hervor. "Was erwartest du also für eine Antwort?"

"Ich-..." Mike wurde von dem plötzlichen Öffnen seiner Tür unterbrochen. Ich atmete erleichtert aus, als Max das Zimmer betrat.

"Sagt mal, von was für einem Vergleich ist hier die Rede?" Er blickte mit erhobener Augenbraue zwischen seinem Bruder und mir hin und her. Zu meinem Pech ließ sich mein idiotischer bester Freund nicht beeindrucken.

"Wir haben uns geküsst."

Max musterte mich grinsend. "Ich wusste schon immer, dass zwischen euch etwas läuft."

Ich verengte die Augen. Jetzt reichte es.

"Eifersüchtig?", zischte ich und sah ihn herausfordernd an.

"Dein Mundwerk ist wie immer schneller als dein Kopf." Seine Worte klangen noch immer amüsiert. Fast schon spöttisch. "Und um deine Frage zu beantworten: wer wäre bitte auf jemanden wie dich eifersüchtig? Guck dich doch einmal an!" Er grinste schadenfroh.

Aua.

Ich würde niemals zugeben, wie sehr er mich soeben mit diesen Worten verletzt hatte. Das war mein Schwachpunkt - schon immer gewesen. Ich war sprachlos, ein ziemlich seltenes Phänomen. Also tat ich das Einzige, was mir noch blieb: ich funkelte ihn feindselig aus meinen eisblauen Augen an.

"Was? Hat es dir etwa die Sprache verschlagen?" Max klang überrascht. Ganz offensichtlich schien er nicht zu wissen, dass er meinen wunden Punkt getroffen hatte.

"Halt doch die Klappe, du Wichser." Ich beäugte Mike verwundert. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Eigentlich legte er sich niemals mit Max an. Niemals. Dafür hatte er nicht das Selbstbewusstsein und er war sich auch seines Standes bewusst. Wieso sollte er sich auch mit dem typischen Klischee der Schule anlegen. Mit dem Teamcaptain und dem beliebtesten Badboy in der Gegend.
Diesmal war es Max, der sprachlos war. Er warf Mike einen warnenden Blick zu, der ihm wohl bedeuten sollte, dass er das noch bereuen würde. Dann machte er wortlos kehrt und verließ das Zimmer, sodass Mike und ich wieder allein waren.

"Danke." Ich nickte ihm zu und erhob mich. Er brummte nur etwas als Antwort.

"Ich bin müde", fuhr ich fort und lächelte schief, in der Hoffnung, er hatte das Thema, um das es vor der Störung ging, vergessen. Seinem Blick nach zu urteilen, hatte er es wohl nicht. Dennoch schien er zu verstehen, dass ich an einer Fortsetzung des Gespräches nicht interessiert war.

"Hier." Er erhob sich und kramte einen Moment lang in seinem Kleiderschrank. Dann warf er mir eine graue Jogginghose und ein Shirt zu. Beides landete in meinem Gesicht, sodass er laut auflachte. Ich quiekte und riss mir seine Kleidung aus dem Gesicht.