Pralinen ganz ohne Strom

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Von erstaunten Kindern geweckt zu werden ist eine neue Erfahrung für mich. Blinzelnd reibe ich mir über die Augen und versuche mich aus meiner halb liegenden und halb sitzenden Position zu kämpfen, in der ich die letzten Stunden verbracht habe. Weshalb mir jeder Knochen – auch solche, von deren Existenz ich nichts gewusst habe – wehtut und ich mir den Rücken reibe, um die Schmerzen besser aushalten zu können.

„Sieh doch!", meint eine sechsjährige, deren Zahnlücke so groß wie mein Daumennagel ist. Weshalb sie etwas lispelt und wie eine süße Klapperschlange klingt. Ich folge ihrem ausgestreckten Finger und kann es kaum fassen. Denn da steht doch tatsächlich ein großer Christbaum in der Lobby, der festlich geschmückt wurde. Und ich bin mir auch ziemlich sicher, welcher Weihnachtsengel das gewesen ist.

„Magie", flüstere ich ihr ins Ohr und sehe zu, wie sich ihre Augen weiten und sie so schön wie zwei Smaragde funkeln. Mein Herz geht dabei auf und ich kann selbst kaum aufhören zu grinsen.

„War das Santa?", höre ich einen kleinen Jungen seinen Vater fragen. Sie sehen sich so ähnlich, dass man fast schon neidisch wird. Er schaut ihn an und erzählt ihm, dass Santa uns allen eine Freude machen wollte und deshalb seine Elfen geschickt hätte, um den Baum zu schmücken. Die Liebe zu seinem Kind steht dem Vater ins Gesicht geschrieben und lässt mein Herz zwar vor Liebe und Wärme überquellen, aber es wird auch schwer. 

Denn vor meinem geistigen Auge sehe ich den kleinen Mike vor mir, der vom Rockefellercenter träumt und die Zeichnung seinem Vater schenkt, der sie in seinem Büro aufhängt, ihm aber seine Liebe nicht zeigen kann. So etwas bricht nicht nur einer Mutter das Herz, sondern auch mir. Wie traurig er sein musste, so etwas ist unvorstellbar. 

Ich frage mich, wo sich Michael jetzt aufhält. Die Geschichte mit Charlotte kommt mir in den Sinn, worüber wir noch reden müssen. Denn ich werde das Gefühl nicht los, dass ich der Grund für ihre Kündigung bin. Ob ich das so schlimm finde, wie ich es vielleicht sollte, weiß ich nicht, aber darüber reden sollten wir schon. 

Als jemand an meinem Saum zieht, werde ich aus meinen Gedanken gerissen, sodass ich meinen Blick nach unten senke. Sie hält ihre Kuschelkatze in der einen Hand und mit der anderen umfasst sie noch immer den Saum meines Pullovers.

„Können wir etwas singen?", lispelt sie und sieht mich mit ihren Kulleraugen an. Von den anderen Kindern höre ich zustimmende Geräusche. Wieso das sie mich dazu auserkoren haben, erschließt sich mir nicht so ganz – wahrscheinlich liegt es an den Geschichten – aber ich kann so süßen Mäusen nichts abschlagen.

„Wieso nicht. Und danach backen wir was zusammen", schlage ich lächelnd vor und höre, wie sie jubeln und klatschen. Die Blicke der anderen auf mir zu spüren, macht mich ein wenig nervös, aber zum Glück war ich in meiner Kindheit im Kirchenchor, sodass ich ein paar geeignete Lieder kenne. Ich lächle, atme tief durch und stimme die ersten Takte von Silent Night an. 

Am Anfang fühle ich mich etwas befangen, doch als einige der älteren Kinder mit einstimmen und sogar die Eltern mitsingen, fällt alle Scheu von mir ab und meine Stimme wird lauter, sodass sie den ganzen Raum erfüllt. Während wir uns an den Händen halten und aus voller Kehle singen – Song für Song – schaue ich mich immer wieder suchend um. 

Doch ich kann Michael nirgends sehen, was mich enttäuscht, denn ich würde ihn gerne sehen. Nicht nur, um mit ihm über Charlotte zu reden, sondern, weil ich seit gestern Abend etwas in ihm sehe, was ich gerne näher kennen lernen würde. 

Doch, wenn ich mich noch einmal auf die Suche begebe, dann wird mich Richard wieder einfangen. Aber vielleicht ist er mir seit gestern etwas milder gestimmt. Wer weiß, einen Versuch ist es bestimmt wert. 

Falling SnowWhere stories live. Discover now