Spaziergang

116 12 0
                                    

„Daryl, hier waren wir schon!" Tamara hatte ihre Stimme gesenkt und trotzdem beschlich sie das Gefühl, dass sie laut wie ein Donnergrollen durch den Wald fegte. Der Mann vor ihr dachte scheinbar nicht im Traum daran, anzuhalten oder die Richtung zu ändern, er ging einfach immer weiter geradeaus.

„Daryl, verflucht! Von hier sind wir doch grade gekommen!" Tamara hatte keinen besonders guten Orientierungssinn, das hatte der Jäger, wie sie ihn insgeheim manchmal nannte, schnell gemerkt. Sie hatte nicht mitbekommen, dass er unterwegs immer wieder kleine Striemen in einige Baumstämme geritzt hatte, um genau auf so einen Verdacht hinzuweisen, falls sie sich verlaufen hätten.

Doch er verlief sich nicht, niemals. Dazu war er zu gut, hatte viel gelernt, vor allem, in der Wildnis zu überleben. Er war wortkarg, wie immer, schenkte Tamara beinahe keine Aufmerksamkeit und sie wusste nicht warum, aber es machte sie irgendwie wahnsinnig.

„Verdammt." Sie stöhnte angestrengt und fuchtelte mit den Armen, versuchte die Reste eines Spinnwebens von ihrem Körper zu wischen, in welches sie gelaufen war. Wenn sich die Bewohnerin jetzt bei ihr sehen lassen würde, wüsste Tamara nicht, ob sie einen Schreikrampf unterdrücken konnte.

Daryl war kurz stehengeblieben und hatte die Szene beobachtet, wandte sich jedoch schnell wieder um und murmelte gut hörbar für Tamara: „Stadtmensch." Entrüstet legte sie einen Zahn zu und schloss wieder zu ihm auf, hatte keine Lust mehr, nur hinter ihm herzulaufen. „Hinterwäldler!", fauchte sie und reckte stolz das Kinn nach oben.

Und wurde plötzlich schwungvoll von ihm zur Seite gerissen. Er drückte sie an einen Baum und hielt ihr eine Hand vor den Mund, beobachtete irgendwas in der Ferne. Wütend starrte sie ihn an, hörte dann jedoch ein Knacken und schloss panisch die Augen. Die Angst überkam sie, wahrscheinlich kamen ihnen gerade eine Horde von diesen Beißern entgegen und sie saßen in der Falle.

Daryl nahm die Hand von ihrem Mund und setzte die Armbrust an, zielte und schoss fast im gleichen Moment, kurz darauf schlich sich ein zufriedenes Grinsen über sein Gesicht. Er ließ sie einfach an dem Baum stehen und stapfte davon, während Tamara tief und zitternd durchatmete. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie hinter dem Redneck hinterlief und sah, wie er etwas vom Boden aufhob.

Triumphierend drehte er sich zu ihr um und präsentierte ein totes Opossum. Fast augenblicklich entspannte sich Tamara und beschleunigte ihre Schritte, schloss zu um auf und sie suchten weiter nach Sophia.

„Es dämmert bald, entweder wir machen uns auf den Rückweg oder wir suchen nach einem Unterschlupf." Tamara erwartete nicht, dass er ihr antworten würde, während sie diese Feststellung traf. Sie waren seit Stunden unterwegs und es schien, als hätte Daryl bis dato keine verwertbaren Spuren entdecken können, denn seine Laune war gleichbleibend schlecht, bis auf die kurze Unterbrechung der Erlegung des Opossums.

Plötzlich wusste Tamara genau, wo sie waren. Sie erkannte den Hang und als sie sich ihm näherten, erblickte sie den Bach unter sich.

„Die Kleine muss hier in der Nähe sein. Das is der Bach, an dem Rick sie versteckt hat, nur weiter weg vom Highway, als uns die Mistviecher angegriffen haben." Er stand neben ihr, sah sie jedoch nicht an. „Oh, es spricht mit mir, welch eine Ehre." Nun warf er ihr doch einen Blick zu, den sie nicht zu deuten wusste. „Bin kein Freund von Worten."

Mit dieser Information ließ er sie stehen und ging den Hang entlang, bedeutete ihr mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Er schien nicht vorzuhaben, an diesem Tag noch zu den anderen zurückkehren zu wollen.

„Hoffentlich hast du ne Übernachtungsmöglichkeit für uns, du elender Griesgram." Sie wurde nicht aus ihm schlau und musterte seinen Rücken. Er war groß, drahtig, seine Arme waren muskulös und plötzlich schüttelte es sie.

‚Reiß dich zusammen' mahnte sie sich selbst. Wenn sie jetzt anfangen würde, für diesen Kerl zu schwärmen, dann könnte sie sich gleich eine Kugel verpassen. Zuerst einmal, weil diese Schwärmerei zu nichts führen würde, zum anderen wusste sie, dass nichts in der jetzigen Welt Bestand haben würde.

Sie wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als sie Daryl fallen sah.

„Oh fuck!", stieß sie aus und rannte zu der Stelle, an der er gestützt war, blickte den Abhang hinunter, sah, wie er sich an einer dicken Wurzel festhielt und angestrengt das Gesicht verzog.

„Warte, nimm meine Hand!" Sie legte sich auf den Bauch, um das Gleichgewicht zu halten und streckte ihm den Arm entgegen. Aus dem Augenwinkel konnte sie erkennen, dass die Wunde an seiner Seite wieder aufgerissen zu sein schien, denn sie sah frisches Blut, welches ihm die Seite herunterlief.


„Komm schon!" Er griff nach ihrer Hand und sie legte alle Kraft hinein, ihn rauf zu ziehen. Dabei verzog er mehr als nur einmal kurz das Gesicht vor Schmerzen, schien es sich aber nicht anmerken lassen zu wollen.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie Daryl endlich hochgehievt hatte und ihr stand der Schweiß auf der Stirn. Er lag neben ihr, hielt sich die Seite und konnte nicht mehr verstecken, dass er Schmerzen hatte, schlimme sogar.

„Daryl, was machen wir? Lass mich nicht hängen!" Er keuchte nur als Antwort und drehte sich auf die gesunde Seite, sah ihr in die Augen und verzog kurz darauf wieder das Gesicht, seine Hand war dreckig und blutverschmiert.

„Ne Meile ungefähr ... da is ne Hütte, in die Richtung. Hab ich schon mal drin gepennt." Tamara nickte und richtete sich auf, half Daryl dabei, es ebenfalls zu tun.

„Dann wollen wir dich mal dahinschleifen, alter Mann!"

From the BeginningWhere stories live. Discover now