Amelie..

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Unwirklich.

Wenn mich jemand fragen würde wie sich die letzten 48 Stunden angefühlt hatten, würde ich genau mit diesem Wort antworten.

Es waren genau 48 Stunden vergangen seitdem ich, einem mir völlig fremden Mann, die Tür geöffnet hatte.
Es waren 48 Stunden vergangen seitdem ich eine Waffe auf einen Menschen gerichtet hatte.
Es waren 48 Stunden vergangen seitdem ich auf Knien den Fußboden von seinem Blut befreit hatte.
Es waren 48 Stunden vergangen seitdem ich mich freiwillig in das Auto von Nick gesetzt hatte um mit ihm ins ungewisse zu fahren.

48 Stunden.. Die sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlten und trotzdem an mir vorbeizogen wie Nebel.
Ich war mir sicher, dass der Schock noch tief saß. Anders konnte ich mir nicht erklären warum sich jede meiner Bewegungen einstudiert, ja fast automatisch abspielten. Wie ein Roboter der darauf programmiert wurde einfach zu funktionieren.
Als Nick sich im Auto kurz zu mir gedreht hatte und mich fragte ob alles in Ordnung wäre, konnte ich nur mit dem Kopf nicken.

Ja, es war alles in Ordnung. Ich fühlte mich gut, aber tief in meinem Inneren wusste ich, dass es nicht in Ordnung sein durfte.
Ich sollte ein reines Nervenbündel sein, zittern, weinen, um mich schlagen oder sogar wütend werden..
Doch all die Emotionen die normal und richtig sein sollten kamen nicht bei mir an.
Ich fühlte nichts.
Stattdessen tat ich genau das von dem ich dachte es wäre gut für mich.
Ich ignorierte meine nicht vorhandenen Gefühle der Trauer oder Angst und kümmerte mich um meine neue Zukunft.

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„Willst du es noch ein letztes Mal durchgehen um sicher zu sein? " Nick saß auf dem alten Holzboden und stopfte sich ein weiteres Stück Käse Pizza in den Mund.
Mit einem kurzen nicken setzte ich mich aufrecht hin und brabbelte meinen Text herunter. Mittlerweile konnte ich ihn in - und auswendig.

„Mein Name ist Amelie Jones. Ich wurde am 8. Dezember 1990 in London geboren.
Meine Eltern gaben mich kurz nach meiner Geburt in Staatliche Obhut und ich wurde von einer Pflegefamilie in die nächste gegeben.
Ich möchte in ein neues Land Reisen um mir ein neues Leben aufzubauen."

Zufrieden lächelt Nick mich an. „Sehr schön! Morgen treffen wir uns mit meinem Bekannten um deine neuen Papiere zu holen und in ein paar  Tagen kümmern wir uns um deinen Flug. Bis dahin solltest du dich weiterhin bedeckt halten und nichts dummes tun."
Diese Leier durfte ich mir mittlerweile zum gefühlt tausendsten Mal anhören.
Tu nichts dummes..
Bleib am besten hier..
Sei still..
Ich war ihm dankbar für seine Hilfe, aber in dieser Drecksbude eingesperrt zu sein war die reinste Folter.
Wir befanden uns in einem verlassenem Industrie Gebäude. Es gab weder Strom noch fließendes Wasser. Der Verputz an den Wänden war abgeplatzt und man konnte den Schimmel, der sich darunter befand deutlich erkennen. Sogar mit Mitbewohnern konnte diese noble Unterkunft dienen, Mäuse und Ratten die durch die kahlen Flure flitzten, ließen überall ihre Fäkalien liegen und der Gestank war abartig.
Resigniert schüttelte ich den Kopf und stand auf.
„Nurnoch ein paar Tage, Mia. Danach kannst du tun und lassen was du möchtest. Aber bis dahin, hör auf mich und verhalte dich ruhig. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen und komme später zurück."
Eilig warf er die letzten Reste, der mittlerweile kalt gewordenen Pizza, in die Schachtel zurück , zog sich seine Jacke über und verschwand nach draußen.

Nur noch ein paar Tage.. Diesen Satz wiederholte ich wie ein Mantra.
Ich setzte mich auf eine Fensterbank und betrachtete den Regen, der seit Tagen unaufhörlich herabfiel. Einige Tropfen verirrten sich auch in die Lagerhalle, das Gebäude war baufällig und das Dach hatte viele Löcher. Der Wind pfiff durch die schmalen Ritze in der Wand und ich zog die dünne Decke, die ich mitgebracht hatte enger um meinen Körper. Ich dachte an die Fahrt zurück, die uns hier her gebracht hatte. Auf halben Weg hielten wir kurz an einer kleinen Raststätte. Nick hielt es für sicherer den Wagen 'auszutauschen' da er, seiner Meinung nach, zu auffällig gewesen wäre. Ich war zwar der Meinung, dass es auffälliger war einen anderen Wagen zu stehlen als den anderen zu behalten, aber was ich dachte zählte da eher weniger.
In der aktuellen Tageszeitung, die der Besitzer beim 'Tausch' der Autos wohl vergessen hatte, war überdimensional groß mein Gesicht abgebildet.
Das und die Tatsache unerkannt bleiben zu wollen ließ uns keine andere Möglichkeit als in diesem verlassenen Gebäude Unterschlupf zu suchen.
Ich konnte ja schlecht in ein Hotel gehen und nach einem Zimmer verlangen wenn das ganze Land eine Großfahndung nach mir veranstaltete.
Der Umstand, dass ein einziger Abend mein komplettes Leben zerrissen hatte machte mich traurig. Hätte ich den längeren Weg, anstatt die Abkürzung durch die Seitenstraße genommen, wäre alles anders verlaufen..
Mittlerweile war draußen bereits die Sonne untergegangen und der Mond war zu sehen.
Seufzend packte ich meine Decke und verzog mich in die einzige Ecke des Raumes, die der Wind nicht erreichen konnte.

Amelie.. Mein Name ist Amelie Jones..
Murmelte ich immer wieder vor mich hin, bis mich die Erschöpfung in einen unruhigen Schlaf fallen ließ.








Dunkles Verlangen [✔️] Where stories live. Discover now