Schulausflug und andere Flügel

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Ich war in einem Wald. Allein. Es war dunkel, und ein modriger Geruch stieg mir in die Nase. Hier war eindeutig etwas faul- und zwar wortwörtlich. ,, Hallo?", fragte ich leise und ängstlich. Niemand antwortete. Gerade, als ich noch einmal rufen wollte (obwohl es eher einem Flüstern glich), hörte ich ein Rascheln. Es war nah... zu nah. Ich drehte mich um, aber sah niemanden. Es war niemand hier- trotzdem machte ich auf dem Absatz kehrt, und lief einfach los. Ich rannte und schrie, immer weiter, immer schneller, doch der Wald wollte einfach kein Ende nehmen. Im Gegenteil, er wurde sogar noch dichter, bis irgendwann gar kein Sonnenlicht mehr durch die Baumwipfel fiel. Ich tappte buchstäblich im Dunkeln, und hatte trotzdem das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Blicke brannten sich in meinen Rücken, es schmerzte fast, aber ich widerstand dem Drang, mich umzudrehen. Rennen war meine einzige Chance. Doch wann war dieser Wald endlich zu Ende? Er schien unendlich zu sein, bis sich plötzlich eine Wand vor mir auftat. Doch sie versperrte mir jeglichen Fluchtweg. Ich konnte nicht mehr weiter. Es war vorbei. Ich schloss die Augen, und wartete auf den sicheren Tod. Doch der Tod hatte eine überraschend weibliche Stimme. ,,Hayden...", flüsterte sie. ,, Hayden!" Sie würde immer lauter und durchdringender, ich presste mir die Hände auf die Ohren. ,, Hayden!!!", schrie die Stimme, und ich wurde endgültig aus meinem Albtraum gerissen. Knurrend öffnete ich meine Augen, und sah in das Gesicht meiner kleinen Schwester Lexy, die damit beschäftigt war, mir meine Bettdecke vom Körper zu zerren. ,, Lass das", stöhnte ich, und drehte mich auf die andere Seite, um weiterschlafen zu können. Doch meine Schwester blieb hartnäckig. ,, Hayden, jetzt steh endlich auf! Es ist Donnerstag, du musst in die Schule!" Seufzend fügte ich mich, und setzte mich an die Bettkante. ,, Jaja, ist schon gut, Schwesterherz! " Sie lächelte, wobei man ihre Grübchen sehen konnte, und ihre Sommersprossen schienen zu tanzen. Sie sah mir überhaupt nicht ähnlich; blauäugig, mit , geflecktem' Gesicht (sie hasste es, wenn ich das sagte), und roten Haaren. Sie rannte aus dem Zimmer, während ich schwankend aufstand, und zu meinem Kleiderschrank torkelte. Ich holte eine Jean und mein Lieblings-Oberteil heraus, und zog mich an. Dann ging ich, inzwischen schon etwas munterer, ins Bad, wusch mein Gesicht, putzte meine Zähne, und schminkte mich dezent. Anschließend sah ich in den Spiegel. Der weiße Pullover vertrug sich gut mit der blauen, figurbetonten Hose, und meine brünetten Haare, die mir etwa bis zur Brust reichten, umrahmten mein blasses Gesicht mit den braun-grünen Rehaugen, der Stupsnase und den vollen Lippen. Es sah einigermaßen respektabel aus, also stürmte ich die Treppe hinunter ins Esszimmer, und setzte mich dort an den Tisch. Lexy begrüßte mich mit vollem Mund, und stammelte irgendetwas von ,,Waschum mascht du disch so zurescht?" Verständnislos sah ich sie an, und sie schluckte umständlich. ,, Warum machst du dich so zurecht? Ist doch nur Wandertag!" Zuerst verstand ich nicht, was sie meinte, aber dann schlug ich mir mit der flachen Hand auf den Kopf. Natürlich, das hatte ich ganz vergessen! Der alljährliche Biologie-Erkundungstag war gekommen, und ich würde dort in meinen besten Klamotten erscheinen! Aber jetzt war es auch schon zu spät, um noch etwas daran zu ändern. Ich würgte im Eiltempo eine Buttersemmel hinunter, schnappte mir meinen bereits gepackten Rucksack, verabschiedete mich, und verschwand durch die Tür. Draußen war es noch recht frisch, wenn nicht sogar kalt, und ich zog automatisch den Reißverschluss meiner Jacke ganz nach oben. Für Anfang April war es eben noch sehr kühl- nicht ungewöhnlich in Österreich, wo ich lebte. Auf dem Weg zum Bus hörte ich Musik durch meine Kopfhörer, der Beat dröhnte in meinen Ohren, und ich genoss es, mit meinen Gedanken allein zu sein. Ich setzte mich, als der Bus gekommen war, an meinen Lieblingsplatz ganz hinten am Fenster. Dort setzte sich selten jemand hin, und ich konnte in Ruhe die vorbeiziehende Landschaft genießen. Von meiner Siedlung fuhren wir in die Stadt, nach Wörgl, und kamen schließlich nach zwanzig Minuten Fahrt vor meiner Schule, dem Bundesrealgymnasium Wörgl, zum Stehen. Schnell stieg ich aus, bevor sich die Türen schließen konnte. Vor dem grauen, und zugegeben etwas trostlos aussehenden Gebäude hatten sich bereits die Meisten meiner Klasse versammelt, und ich gesellte mich zu ihnen, ohne wirklich dazu zu gehören. Ich war schon immer anders- nicht, dass ich ein Emo wäre, wie viele wegen meiner oftmals dunklen Kleidung, und meiner anscheinend ,abwesenden´ Ausstrahlung behaupteten-, aber ich las sehr gerne und oft, hörte Musik, die nicht im Radio lief, mochte die beliebten Songs meist nicht, war nicht unfreundlich zu den Außenseitern (was vielleicht daran lag, dass ich ja selbst einer war), zog mich nicht nach dem Prinzip an, was gerade in Mode war- kurzgefasst: ich passte nicht ins Schema. Ich war eine Ausreißerin unter den Beliebten. In meiner Klasse hatte ich so gut wie keine Freunde, was mir aber nur recht war. So konnte ich die Pausen damit verbringen, zu lesen, mich in der Welt der Bücher zu verlieren... ,,Hayden?´´, weckte mich meine Lehrerin, Miss Loren (wir mussten alle unsere Lehrer mit ,Herr- und Frau Professor´ anreden, aber insgeheim nannte ich sie immer ,Miss´ oder ,Mister´) aus meinen Gedanken. ,,Ja, ähmm... Entschuldigung, könnten sie die Frage bitte wiederholen?´´, stammelte ich, und hörte ein paar Mädchen hinter mir kichern. Meine Wangen röteten sich, doch Miss Loren lächelte mich nur an. Sie war nett, und immer geduldig mit mir. ,, Du bist die Letzte, wir gehen jetzt los.", sagte sie, und wandte sich nach rechts, zum Hinterhof der Schule. Oh. Das war keine Frage. Ich wartete, bis der Letzte hinter Miss Loren herdackelte (das sah immer so aus, als wäre sie die Entenmutter, die ihre Kinder wegführt), dann trottete ich hinterher. Ich war gerne die Letzte in der Reihe, da wurde nichts von einem erwartet, niemand störte einen... Ich wusste, meine Klassenkameraden gingen nur ein paar Schritte vor mir, doch ich fühlte mich alleine. Es war schön. Ich verlor mich in meinen Gedanken, betrachtete das Funkeln der Tautropfen in den Spinnennetzen, bis es irgendwann leise war. Ich begrüßte die vollkommene Stille mit offenen Armen. Hier war ich zuhause, es war schön, ganz alleine zu sein. Moment.

Ich spitzte die Ohren, und sah mich um. Ich war tatsächlich alleine- meine Klasse war nicht mehr da! Ich drehte mich suchend im Kreis, aber hörte weder etwas, noch sah ich sie. Der gerade noch so wunderschöne Wald schien sich plötzlich zu verdichten. Die Bäume verdeckten mir die Sicht auf die Sonne... Nein, ich will sie zurück! Bitte! Ich hob flehend die Arme zum Himmel- einem Himmel, den ich nicht mehr sehen konnte. Es wurde dunkel. Ein unangenehmes Gefühl machte sich in mir breit. Was, wenn mein Albtraum, den ich inzwischen fast jede Nacht hatte, nun wahr wurde? Schon spürte ich die Blicke in meinem Rücken. Ich drehte mich um. Nichts. Ich wollte anfangen zu laufen, da sah ich etwas in den Baumwipfeln über mir. Etwas Schwarzes, mit Federn... Flügel- ein Rabe? Es bewegte sich nicht, verharrte still. Nein, dafür war es zu groß. Aber was war es dann? Zwischen seinen Flügeln war etwas leuchtendes Blaues. Instinktiv griff ich nach meiner Kette mit dem blauen Stein, die ich seit dem Tod meines Vaters immer und überall trug, seit ich sie an seinem Todestag gefunden hatte. Der Stein war warm. Überrascht schaute ich auf die Kette hinunter- der Stein leuchtete und pulsierte unter meiner Hand. Jetzt erst begann ich zu laufen, und die Gestalt über mir erhob sich, und flog davon- zu schnell, als dass ich wirklich sagen könnte, was das war. Aber es hatte starke, schwarze Schwingen... und es war eindeutig zu groß für einen Raben. Es war eher so groß wie... ja, wie was eigentlich? So große Vögel gab es nicht- zumindest nicht bei uns. Aber er hatte so ausgesehen, als wäre er hier zuhause. Ich rannte immer weiter, bis mir der Schweiß (Angst vermischt mit Adrenalin) die Kleidung hinunterrann, und ich irgendwann nicht mehr konnte. Mein Atem ging bereits röchelnd und stoßweise, mein Puls galoppierte unrhythmisch dahin, und setzte hin und wieder einen Schlag aus. Nach Sauerstoff hechelnd blieb ich schließlich stehen, legte die Hände auf meine Knie, und versuchte mich zu beruhigen. Das Gefühl der Beobachtung war verschwunden, und mir fiel auf, dass ich mich auf dem Feldweg befand, den ich zuvor mit den Anderen beschritten hatte. Und als ich mich ein wenig umsah, sah ich meine Klasse am Rand des Waldes stehen, Miss Loren zeigte gerade auf eine Tanne, und erklärte etwas. Sie schienen mein Verschwinden noch nicht bemerkt zu haben, also schlüpfte ich leise aber zügig unter ein paar Bäumen hindurch, und stellte mich wie selbstverständlich zu der restlichen Gruppe, als wäre ich nie weggewesen. Als hätte ich mich nie im Wald verirrt. Als hätte ich nicht eine merkwürdige Gestalt mit riesigen, pechschwarzen Flügeln gesehen. Als hätte ich nie beschlossen, herauszufinden, was das war.

Angel of DarknessWhere stories live. Discover now