Dornen

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,,Du!", knurrte ich und starrte ihn mit zusammen gekniffenen Augen an, die Hände wie Krallen geformt und bereit ihm an den Hals zu springen. Er ging ein paar Schritte rückwärts, und lehnte sich lässig gegen eine Hauswand, ohne seinen Blick dabei von mir abzuwenden. ,,Ich was?" Seine grünen Augen musterten mich herausfordernd und ein freches Grinsen spielte um seine Lippen. ,,Du... du..." Ich suchte verzweifelt nach dem richtigen Ausdruck und gestikulierte wild mit den Armen um ihm zu zeigen was ich meinte. Er starrte mich verständnislos an und hob fragend die Augenbrauen. ,,Du Idiot!" Er kicherte und strich sich eine pechschwarze Strähne aus dem blassen Gesicht, die sich wohl dorthin verirrt hatte. ,,Warum? Was hattest du denn erwartet? Verbrennungen? Verletzungen? Ein Topmodel?" Er lachte.  ,,Naja, ich weiß nicht... Narben vielleicht, ja, vielleicht auch Verbrennungen - aber doch nicht dich!" ,,Nun, was soll ich sagen? Das Schicksal scheint uns auszulachen." Ich hatte mich also wirklich nicht getäuscht - er war tatsächlich der Junge aus dem Wald. Der Junge aus dem Wald, den ich nicht betreten durfte, ohne zu wissen, warum. Und er hatte einen anderen Menschen zusammengeschlagen, er war definitiv gefährlicher als ein Wald voller alter Bäume, deren Blätter in der Sonne glänzten und dessen Atmosphäre geradezu malerisch war. Zumindest meistens. ,,Und, wie kommen wir jetzt hier weg?", lenkte er geschickt vom Thema ab und deutete hinter mich. ,,Wir sollten uns etwas beeilen, bevor er aufwacht." Ich nickte, wendete mich von ihm ab und sah auf den zerfledderten Busplan, von dem inzwischen nur mehr die Hälfte übrig war. Der Wind, die störrischen Wetterbedingungen hier und betrunkene Jugendliche hatten ihm offensichtlich hart zugesetzt. ,,Es geht jede zweite Stunde ein Bus. Wie spät ist es?", rief ich zu ihm herüber. ,,Woher soll ich das wissen? Und schrei gefälligst nicht dermaßen laut herum, ich kann dich auch so hören." Er war so nah, das ich die Energie in seinem Körper fast fühlen konnte.  Erschrocken drehte ich mich um, meine Hand schnellte reflexartig nach vorn und ballte sich zur Faust, doch er war schneller und hielt sie fest in seinem Griff. ,,Nana, wer wird denn gleich?", kicherte er amüsiert und ließ sie erst los als mein Herzschlag sich wieder etwas beruhigt hatte. ,,Wenn du mich noch einmal so erschrickst...", zischte ich und verengte meine Augen zu schmalen Schlitzen. ,,Dann...?", fragte er belustigt und kam noch einen Schritt näher, sodass nur mehr ein schmaler Luftstreifen zwischen uns lag. Er beugte sich zu mir vor und flüsterte: ,,Na? Was willst du dann tun?" Meine Haut kribbelte, als seine kalte Atemluft  mein Ohr streifte. Seine Zunge berührte meinen Hals, und ich hielt angespannt die Luft an. ,,Was wirst du dann mit mir anstellen, hm?" ,,Ich..." Er kicherte, löste sich von mir und ging ein paar Schritte rückwärts, bis er mit dem Rücken wieder an die Wand stieß. ,,Also, ich weiß ja nicht was du machst, aber ich für meinen Teil werde jetzt erstmal eine Kirche suchen." Erstaunt fuhr ich mir an den Hals und öffnete den Mund um etwas zu sagen, schloss ihn aber als ich bemerkte, dass ich nicht wusste, was. ,,Du willst jetzt in die Kirche? Bist du gläubig oder was?", war schließlich das einzige, das ich mich zu sagen traute. Er verdrehte die Augen und grinste. ,,Ich glaube nur daran, dass man bekommt, was man verdient. Nein, aber eine Kirche hat eine Uhr. Und dann wissen wir auch wie spät es ist, und wann der Bus kommt." Ich nickte. Diese Logik konnte ich kaum anfechten. ,,Also, kommst du nun?" Er sah mich fragend an und drehte sich dann um. Zögernd betrachtete ich meine Umgebung. Es war zweifelsohne gefährlich mit ihm mitzugehen, aber noch gefährlicher hier zu bleiben. Ich entschied mich dazu, weiter zu gehen. Meine Füße liefen über den nassen, dreckigen Asphalt. Die Häuserfasaden waren zugelagert mit Müll, eine alte Currywurst ragte aus einem der Müllsäcke, die Fliegen hatten sich bereits darauf versammelt, angelockt von dem ekelhaft scharfen, beißenden Geruch den diese ausstrahlte. Eine Ratte suchte sich ihren Weg durch die verschmutzte Gasse und ließ sich schließlich in einer Ecke nieder, neben einer Lache von undefinierbaren Erbrochenem und einer gelben Flüssigkeit die ich als Urin identifizierte.  Der Junge - mir war aufgefallen, dass ich vergessen hatte ihn nach seinem Namen zu fragen - war bereits vorangegangen. Ich konnte seine Silhouette noch in einiger Entfernung sehen, war mir aber manchmal nicht ganz sicher, ob er das war oder der Schatten eines nächtlichen Fußgängers. Wobei ich mir auch nicht vorstellen konnte, wer in dieser Gegend überhaupt spazieren gehen wollte - noch dazu zu dieser Tageszeit. Meine einzige Orientierung waren die Stahlseile über mir, die die Straßenbahnen durch die dunklen Gassen führte. Eine halbe Ewigkeit später tauchte vor mir endlich ein altes, verfallendes Gemäuer auf, das an eine Kirche erinnern konnte, inzwischen jedoch mehr wie eine alte Ruine aussah. Und selbst von hier aus konnte ich sehen, dass dort keine Uhr war. Er wartete schon auf mich, und ich entschied, dass ich jetzt zuerst mal seinen Namen herausfinden wollte. Mein Name war schon ziemlich außergewöhnlich - Jungen in dieser Gegend hießen normalerweise Max, Alexander, Johannes... Ich begutachtete seine dunklen Haare, die ihm strähnig ins Gesicht fielen und stellte mir vor er hieße Max. Unwillkürlich musste ich mich schütteln. ,,Hey, auch endlich da?'' Er lachte belustigt auf. ,,Schade, ich hatte gehofft du hättest dich verlaufen...'' ,,Ja klar, als hättest du ohne mich überhaupt eine Chance zu überleben'', erwiderte ich stirnrunzelnd. ,,Mal abgesehen davon bist du doch hier der Stalker unter uns. Wer von uns ist mir denn gefolgt?'' Er schmunzelte. ,,Touche.'' Ich rümpfte die Nase und hielt ihn an seinem Oberteil fest, damit er sich nicht wieder in Luft auflösen konnte. ,,Du hast mich also wirklich verfolgt? Warum?'' Selbst durch den Stoff seines Pullovers spürte ich, wie sich seine Muskeln anspannten. Er kaute nachdenklich an seiner Lippe herum. ,,Ja, stimmt, ich bin dir nachgegangen.'' Ich entschied mich, fürs erste zu ignorieren, dass er meine Frage damit noch immer nicht beantwortet hatte und ließ ihn wieder los. ,,Und was jetzt?'', lenkte ich seine Gedanken wieder auf unser derzeitiges Problem. Ich sah an dem großen Gemäuer hoch. Die hellrosa Farbe blätterte bereits davon ab, grün-schwarze Ranken wanden sich darüber. Die Rosen im Garten davor waren schon längst abgestorben, nur mehr die vertrockneten Blütenblätter und ein Strauch voller spitzer Dornen war von den ehemals schönen Blumen übrig geblieben und zeugten von dem früheren Leben. Die plötzliche Trauer überfiel mich so überraschend, dass ich keuchend auf die Knie fiel, den Blick weiterhin auf die abgestorbenen Rosen gehalten. Ich legte die Hände vor meine Augen um sie nicht mehr sehen zu müssen, doch die Bilder verfolgten mich. Bilder von früheren Zeiten, glücklicheren Zeiten. Mein Vater und ich, beim Spazierengehen im Park, Lamas füttern im Zoo (eigentlich strengstens verboten, doch das hatte uns wenig ausgemacht) und Achterbahn-fahren im Erlebnispark. Ich als kleines Kind, das noch nichts von der Welt verstand und verstehen wollte. Und dann ein anderes Bild. Meine Mutter und ich bei Daddys Beerdigung, schwarz gekleidet wie die abgestorbenen Rosen die auf seinem Grab wuchsen, mit spitzen Dornen um alle unerwünschten Besucher zu vertreiben, sich windende Schlingen, bereit sich um meinen Hals zu legen und mir die Luft abzuschneiden, wie giftige Schangen die sich züngelnd und zischend um ihr Opfer schlängeln, bis sie es schließlich töteten. Meine Mam und ich hatten sein Grab schon seit seiner Beerdigung vor elf Jahren nicht mehr betreten. Jeder Versuch sie auf seinen Tod anzusprechen endete entweder mit Ablehnung, Ablenkungen oder Ausreden, ich konnte rein gar nichts aus ihr heraus bekommen. Und inzwischen hatte ich die Versuche auch aufgegeben. ,,Alles okay mit dir?" Eine Hand berührte meine Schulter. Ich zuckte zusammen und nickte. Der Nebel vor meinem geistigen Auge verflüchtigte sich und ich saß wieder auf dem harten Steinboden vor der Kirche. Einer Kirche, die rein gar nichts mit dem Tod meines Vaters zu tun hatte, neben einem Jungen der nichts mit ihm zu tun gehabt hatte- es gab keinen Grund, warum mich die Erinnerungen ausgerechnet jetzt heimsuchten, wie sonst zu später Stunde, wenn ich im Bett lag. Allein, nur begleitet von meinen kleinen Träumereien, Fantasien von einer normalen Familie, einem normalen Leben. Einem Leben in dem ich meinen Vater nach Rat fragen konnte, wenn mich das erste Mal der Liebeskummer heimsuchte. Der meinen ersten festen Freund gründlich untersuchte und ihn bei einem gemeinsamen Abendessen ähnlich einem Verhör ausfragte, während ich mich neben ihm zu Boden schämte. All diese Dinge, von denen ich täglich las, von denen meine wenigen Freundinnen erzählten- Solche nervigen Kleinigkeiten, die ich niemals erleben würde. Ich seufzte und stand langsam wieder auf. Meine Gelenke knackten bei jeder Bewegung, als hätte ich tagelang still gelegen, ein leichter Schmerz zuckte durch meine Schulter. Vor mir befand sich das große Eingangstor zur Kirche, trotz seiner Größe überraschend versteckt und unauffällig neben all den anderen Eingängen, zu deren Gebäuden die Kirche grenzte, alle aneinander gereiht. Die hölzerne Tür bestand aus zwei Türflügeln, schön verziert mit ineinander verschlungenen Schnitzereien. Ich lehnte mich erschöpft gegen eine der zwei Steinsäulen links und rechts davon und atmete ein paarmal tief ein und aus. Währenddessen betrachtete mich der Junge, mehr neugierig als besorgt, doch ich versuchte ihn zu ignorieren und mir nicht anmerken zu lassen, wie verwirrt ich immer noch war. Der charakteristisch erdige Geruch nach Holz, der von der schweren Eingangstür ausging, benebelte meine Sinne und beruhigte mich langsam. Meine Gedanken wurden genauso schwer wie meine Füße, träge zogen sie sich sie hin, zäh wie Joghurt. Wenn ich versuchte, mich auf meinen nächsten Schritt - dank meinem Gleichgewicht mehr wörtlich als bildlich gesprochen - zu konzentrieren, verschlagen sich die Gedankenfäden ineinander, und ich entschied, mich davon zu lösen. Der Schmerz in meinem Knöchel verschwand. Der Schmerz in meinen Sohlen. Der Schmerz in meiner Seele. Ich konnte mich von allem lösen, hatte das Gefühl, schwerelos zu sein, zu schweben, höher hinaus als ich je war. Ich fühlte das Leben aus meinem Körper entweichen, als ich zu Boden sank und mit dem Kopf auf dem harten Beton aufschlug.


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⏰ Last updated: Sep 27, 2015 ⏰

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Angel of DarknessWhere stories live. Discover now