K A P I T E L E L F

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' s o m e d a y    I    a m     g o n n a     m a k e    m y      d r e a m s     c o m e      t r u e '

Das ist echt surreal gerade. Unglaublich, dass wir im Moment mit dem Auto zu der ersten eigenen Wohnung meiner älteren Schwester fahren. Die Zeit vergeht, ohne dass wir etwas davon bemerken. Manchmal scheint es, als sei die Welt stehen geblieben. Minuten fühlen sich an wie Stunden, Tage holen dich ein, als hätte man Sohlen aus Stahl. Dann aber, wenn man am Ende von einem wichtigen Lebensabschnitt ist, wenn man etwas erreicht hat oder ganz einfach an dem nächsten Punkt im Leben angelangt ist, den man gefühlt ewig angestrebt hat, kommt es einem so vor, als sei die Zeit verflogen, als sei sie in binnen von Millisekunden davon geströmt. Rückblickend scheint alles so zu sein. Man versucht mit aller Gedankenkraft die Zeit zurückzudrehen, den Moment zu genießen, doch es gelingt nicht. Es wird nicht gelingen. Nie. Und plötzlich erinnert man sich an die absurdesten, banalsten, vergangenen Ereignisse, die auf einmal von Bedeutung sind. Genauso ist es auch mit Menschen. Erst nachdem eine Person nicht mehr da ist, gewinnt sie an Wert. Erst dann schätzt man sie, obwohl man das hätte viel vorher tun sollen. Meine Situation lässt sich damit vergleichen. Meine Schwester, an dessen Existenz ich mich so sehr gewöhnt habe, zieht von dem einen auf den anderen Moment in eine eigene Wohnung in einer anderen Stadt. Klar, ein Umzug ist noch lange nicht so schlimm wie der Tod, aber es ist vergleichbar. Ich weiß nicht wie ich mich fühlen soll. Ich könnte traurig sein, weil mit diesem Schritt meine neunzehn jährige Schwester nun vollkommen erwachsen geworden ist. Weil ich ab jetzt nicht mehr Nachts wenn ich Angst habe mich mit einem Blick zur Seite auf das Bett meiner Schwester vergewissern kann, dass wenn etwas passiert, sie es hören würde, wenn ich schreien würde. So hatte ich bis jetzt immer meine Ängste besiegt. Andererseits werde ich sie trotzdem weiterhin noch sehen, nur ein bisschen weniger. Diese limitierte gemeinsame Zeit miteinander würden wir dann ab sofort besser nutzen. Außerdem habe ich mit ihrem Umzug ein größeres Zimmer für mich allein, das ich dann einrichten kann, wie ich will und auch in den folgenden Tagen werde. Die Argumente für die fröhliche Trennung überwiegen, weswegen ich mich für das glücklich sein entscheide. Das mulmige Gefühl in meinem Bauch bleibt jedoch. Das Auto stoppt, meine Mama und meine Schwester verlassen das Auto, gefolgt von mir. Auf meine beiden jüngeren Geschwister passt Filiz teyze auf. Der Kofferraum öffnet sich und wir Tragen die Kisten in das Wohnkomplex rein. Manche der Kisten sind selbst zu zweit eine echte Herausforderung. Nachdem alle Kartonboxen sich in der Wohnung befinden, werfe ich zum erstem Mal ein Blick auf die Wohnung. Wenn man bedenkt, dass es eine Studentenwohnung ist, ist sie mit sehr viel Schnickschnack, wie einem kleinen Balkon, ausgestattet. Sonst gibt es einen Wohnzimmer mit einer integrierten Küche, ein kleines Schlafzimmer und ein noch kleineres Bad. Insgesamt aber viel zu viel für eine einfache Studentin. Ziemlich großzügig war der Architekt. Wir beginnen damit die Möbel aufzubauen, realisieren dann aber ziemlich schnell, dass man es innerhalb eines Tage, auch nicht zu dritt, gebacken bekommt und bauen im Endeffekt nur das Bett auf, damit sie schlafen kann. "Wir machen das anders! Du schläfst noch so lange zu Hause, bis wir deine Wohnung fertig haben. Ben sana kiyamam yavrum", zieht meine Mama den Schluss. "Und wo soll die schlafen?", mische ich mich ein. "Sie schläft in meinem Bett und ich auf der Couch. Ganz einfach." "Anne, nein, das geht nicht. Ich schlafe auf der Couch", verlangt meine Schwester. "Kizim, es wird das gemacht, was ich sage. Keine Widerworte!" Wir belassen alles in dem aktuellen Zustand und machen uns auf den Heimweg. Ich denke mal für meine Mama wird der Umzug am schwierigsten sein. Schließlich sind wir für sie alles und die vier Grundbausteine ihres Lebens, auf die alles andere aufbaut. Ich denke mal, sie wird eine lange Zeit schlecht gelaunt, wenn nicht sogar deprimiert sein. Mit schlecht gelaunt meine ich nicht grimmig, sondern lustlos. Aber dann wird sie wieder ihre magische Mütterkraft sammeln, und zur alten Mama werden. Wenn wir ehrlich sind, ist dieser Umzug nichts großes. 114 Kilometer werden uns trennen, die man mit dem Auto in einer Stunde und 13 Minuten überwinden kann. Auf dem Rückweg setzt mich meine Mama beim Rewe ab, damit ich Tiefkühlpizza zum Abendessen kaufen kann, da meine Mama heute nichts kochen konnte. Glücklicherweise ist heute verkaufsoffner Sonntag, was mir den Einkauf erst ermöglicht. Der Rewe ist nur wenige Hundert Meter von meinem zuhause entfernt und befindet sich in einem kleinen Kaufhaus mit Aldi, Rossmann, einem Friseur und einem Kiosk. Ich stecke mir meine Kopfhörer rein, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass mich jemand nach etwas fragt, geringer. Und falls mich jemand fragt, kann ich immer noch so tun, als hätte ich nichts gehört und kann weiterlaufen. Am Eingang des Kaufhauses neben der automatischen Schiebetür bemerke ich eine Gruppe von Jungs und setze von der Sekunde an, an der ich sie sehe meinen desinteressiertesten und monotonsten Blick auf, den ich habe. Mein Kinn hebt sich selbstständig, meine Schultern straffen sich und mein Gang wird selbstsicherer. Diese Transformation erfasse ich als notwendig, da ich vermeiden will, dass irgendeiner der Spasten mich anspricht, da sie irgendetwas an mir als Interesse interpretiert haben. Ich hasse es. Was will man dadurch erreichen, dass man jemanden anspricht? Im ernst, WAS? Allein schon bei diesem Gedanken daran, könnte ich ausrasten. Ich spüre, wie die Jungs im Kreis sich in meine Richtung drehen. Diese Vermutung kann ich allerdings nicht bestätigen, da ich wie gebannt auf einen unbedeutsamen Punkt schaue, den ich zuvor fixiert habe, damit ich nicht versehentlich aus Reflex mit dem Blick zu den Jungs rutsche. Als ich mich im Rewe befinde und gerade um die Ecke des Regals abbiege, erspähe ich, wie die Jungsgruppe ebenfalls den Supermarkt betritt. Folgen die mir etwa? Ela, es kann rein Zufall sein. Es ist unmöglich für mich mit meinen Maulwurfaugen zu erkennen, wer diese Jungs sind. Dafür müsste ich mindestens drei Meter Abstand zu ihnen haben. Unbeirrt führe ich meinen Einkauf fort. Als ich mir gerade den Aktionsstand mit der ganzen reduzierten Ware anschaue, erscheint die Jungsgruppe an dem Müsliregal. Leicht unsinnlich. Mögliches Indiz dafür, dass sie mich verfolgen? Ich schlender weiter zu der Süßigkeitenabteilung. Meine Augen scannen dabei alle fünf Regale nach reduzierter Ware. Ich bin echt eine Schnäppchenjägerin. Schließlich nehme ich eine Packung von den Haribo Schlümpfen mit und eine Milka Schokoladentafel, auch wenn sie nicht reduziert sind. Neben mir taucht erneut die Jungsgruppe auf. Langsam reicht es mir. Aber erst einmal brauche ich handfeste Beweise dafür, dass die mir auch wirklich folgen. Deswegen eile ich zur Backabteilung. Ziemlich unwahrscheinlich, dass die Jungs etwas zum backen brauchen oder? Siehe einer an! Wer kreuzt auf? Die Jungs Gruppe. Kann man nicht einmal friedlich seinen Einkauf erledigen, ohne gleich belästigt zu werden? Mit meinem Aussehen dann wohl eher nicht. Zu viel rumgealbert. Ich mache mich nun auf den Weg zum Pizzabereich und stoße dabei auf den Zeitschriftenständer. Es schadet doch keinem, wenn ich kurz in den Teenagermagazinen herumstöbere, oder? Ich meine vielleicht ist in einen von den Zeitschriften ein Poster von CRO oder Francisco Lachowski dabei? Völlig vertieft durchsuche ich das gesamte Zeitschriftsortiment nach CRO und Francisco Lachowski Postern oder Artikeln und schrecke auf, als mich jemand an der rechten Schulter antippt. Mein Herz rast. Bitte bitte lieber Gott lass keinen Junge mich jetzt nach meiner Nummer fragen. Etwas zu schnell drehe ich mich um und schaue in das Augenpaar von Anil. Gott sei Dank. "Zeitschrifte?",fragt er mich. Kann der nicht sehen oder was? "Ja?", antworte ich. "Du - du liest sowas noch?", stottert er. "Ja, manchmal. Was dagegen?" "Nein, nein. Was hast du da?" Er reist mir die Bravo, mit einer zugegeben unspektakulären Schlagzeile aus der Hand und schaut mich mit einem schrägen Blick an. "Kaufst du Bravo wegen den zwei Seiten mit den nackten Menschen?", er schließt die Augen, verharrt kurz in dieser Position und öffnet sie wieder, "Ist das deine Art dich zu befriedigen? Ich mein es gibt tolle Pornos im Internet. Die sind auch kostenlos, solange man nicht beim Streamen erwischt wird und eine Abmahnung bekommt. Kann ich dir auch empfeh-" "Anil stopp!", unterbreche ich ihn kreischend, "Ich kaufe die Bravo nicht wegen diesen zwei Seiten! Da ist ein Poster und ein Sticker von CRO!" Ich deute mit meinem Zeigefinger auf das kleine Bildchen von CRO unten auf der Titelseite. Jetzt schaut er mich noch komischer an, als zuvor: "Du bist ein CRO Fan? Du? Ela Sert? Du gibst Geld für einen CRO Poster aus?" "Ja. was ist daran so verwerflich?" Er schüttelt drastisch den Kopf: " Nichts, alles gut. Ist nur halt..Ich mein wir reden hier von...von CRO!" "Er ist ein Sänger." "Ich verstehe schon" , nickt er mehrmals hintereinander, "Ist das so eine Art Ritual von dir? Also machst du das ständig? Zum Rewe kommen und nach CRO Postern suchen?" Er meint es ernst. Ich pruste los. Dieser Junge ist echt nicht mehr normal. "Nein. Nicht geplant. Nur gelegentlich. Also wenn ich mich schon im Laden befinde, schaue ich auch ab und an in den Zeitschriftenregal. CRO ist ja auch nicht so berühmt, dass er jede Woche in einer Zeitschrift ist. Diese Zeiten sind vorbei." Er nickt noch immer mit einem ernsten Blick, als würde er diese Information noch verarbeiten müssen. Ich finde es echt belustigend, wie er sich benimmt. Als sei ich psychisch unstabil. "Und was machst du hier?", wechsele ich das Thema. "Ich bin nur mit ein paar Jungs draußen." Er zeigt mit seinem Daumen hinter sich, ohne sich umzudrehen. Ich gucke an ihm vorbei und erkenne die Jungsgruppe. Meine Augen stoßen auf Levins, der mich genervt anschaut. Ich wende meinen Blick wieder Anil zu. "Eigentlich habe ich die ganze Zeit deinen Namen gerufen, aber du hast mich ignoriert. Würde Levin nicht so viel gemeckert haben, wäre ich schon früher zu dir gekommen. Wir sind dir auch gefolgt, aber Levin wollte mich immer abhalten zu dir zu kommen. Keine Ahnung was für Probleme der hat." "Oh sorry. Ich hatte Kopfhörer drin und habe Musik gehört. Und meine Augen sind schlecht, weswegen ich dich auch nicht erkannt habe", gestehe ich wahrheitsgemäß. Naja vielleicht halb wahrheitsgemäß. Ich hätte noch  erwähnen können, dass ich dachte, ich werde verfolgt, weil einer der Jungs mich ansprechen wollte. "Du siehst nichts?", erkundigt er sich. "Ich sehe die Ferne schlecht. Ich bin Kurzsichtig." "Und wieso trägst du nie eine Brille?", hackt er nach. "Ich habe mich bis jetzt noch nicht darum gekümmert", gestehe ich. "Wann hast du es denn bemerkt?", durchlöchert er mich. "Ist schon seit der neunten Klasse so. Aber ich habe bald ein Termin beim Augenarzt." Anil setzt an etwas zu sagen doch wird von Levin unterbrochen: "So wenn ihr zwei Turteltäubchen mal zum Ende kommen würdet? Wir gehen jetzt Anil." Doch statt Levin zu gehorchen, ignoriert Anil ihn nur. "Du bist CRO Fan und blind und obendrein noch zu faul um zum Arzt zu gehen. Viele Informationen, die ich jetzt erstmal verarbeiten muss", behauptet Anil. "Und jetzt muss ich leider gehen, weil eine gewisse eifersüchtige Person", er hält kurz inne um Levin schuldig anzugucken und führt seinen Satz weiter fort, "Mir den Kontakt mit dir verbietet." Spöttisch lacht Levin auf und fährt seine Augenbraue nach. "Ich bin definitiv nicht eifersüchtig. Worauf denn? Ich will nur, sowie die anderen Jungs auch, endlich nach Hause. Das ist es." "So wie es hinten aussieht, amüsieren sich die Jungs grade. Von Langweile ist nichts zu sehen. Du bist die einzige Person die meckert", konfrontiert Anil Levin. Levin stemmt seine Hände an seiner Hüfte ab und übt mehr Druck beim nachfahren seiner Augenbraue aus. "Ich will einfach nur nach Hause", brummt Levin, zerrt Anil mit sich zu den Jungs, dreht sich provozierend zu mir um mit einem breiten Lächeln auf dem Mund und winkt:"Hau rein." Ich ziehe meine Augen zusammen und schränke meine Arme vor der Brust ein.

 Levin ist die sinnwidrigste Person, der ich je in meinem Leben begegnet bin. 


Liebe ähnelt dirDonde viven las historias. Descúbrelo ahora