Nine

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Auch einen Tag später bin ich noch ziemlich verwirrt über Deans Besuch und die Worte die er leise flüsternd ausgesprochen hat. Den ganzen Tag fühle ich mich wie auf heissen Kohlen, als würde ich nur den Abend herbeisehnen, an dem- wie ich stark hoffe- der schwarze Wolf wieder zu mir kommt. 

Wie jedes Halloween verbringe ich den Tag mehrheitlich Zuhause, alleine, weil meine Eltern im Krankenhaus sind. Meine Mutter hat gestern nicht einmal bemerkt, wie ich völlig durchgefroren durch die Haustür reingekommen bin, nachdem ich mich zu Dean hinuntergeschlichen habe. 

Sie sass mit einem Glas Wein auf der Couch und schlief, ich nahm ihr das Glas und die Fernbedienung aus der Hand, schaltete den Fernseher aus und legte eine Decke über sie. Danach löschte ich das Licht und ging nach oben in mein Zimmer. Dort kuschelte ich mich in die Steppdecke meiner Grossmutter und grübelte eine ganze Weile über das Geschehene nach, ehe ich irgendwann vor Erschöpfung einschlief. 

Als ich heute Morgen aufwachte, hatte ich das Gefühl, dass sich irgendetwas in mir verändert hat. Meine Gefühle zu Dean haben sich, wie die Kontinentalplatten der Erde verschoben. Als hätte ich eine sorgsam gezogene Grenze überschritten. Aber wieso und wie konnte sich das so schnell ändern? 

Darüber bin ich mir noch nicht im Klaren, aber ich versuche mich so gut es eben geht abzulenken. Da es heute Samstag ist, haben wir keine Schule und so kann ich auch meinem Lieblingsnachbarn aus dem Weg gehen. Trotzdem schleichen sich immer wieder Gedanken über sein Verhalten- das ich nicht zu deuten weiss- hinein und scheinen unbewusst mein Denken zu steuern. Was mich mittlerweile ärgert, denn ich kann nicht einmal die Halloweendekoration aufhängen, ohne an ihn zu denken.

„Vergiss ihn am besten", flüstere ich mir zu und schüttle den Kopf. Das sollte ich wirklich, doch ich kann nicht. Auch nicht nachdem ich Kekse für die Kleinen, die bestimmt auch dieses Jahr die Nachbarschaft unsicher machen werden, gebacken und in eine Dose verräumt habe. Und auch nicht als ich das Haus anfange zu putzen, bis meine Hände ganz rot und wund vom zu starken Putzmittel sind. 

Am frühen Nachmittag beschliesse ich für einen kurzen Spaziergang das Haus zu verlassen. Der Nebel hängt wie eine dicke Decke über der Kleinstadt und passt super zu meiner gedrückten Stimmung. Ich wickle mir einen Schal um den Hals und ziehe meine Haare raus, damit sie nicht ganz so elektrisch aufgeladen werden und laufe los. 

Ich habe kein Ziel, will nur ein bisschen frische Luft schnappen und ich erhoffe mir auch dadurch, dass die kühle Herbstluft meine Gedanken klärt. Ich habe es satt mich ständig diese Dinge zu fragen und nie eine Antwort darauf zu bekommen. Im Gegenteil. Statt endlich Gewissheit zu bekommen, knallt mir jeder noch mehr Fragen an den Kopf. Und mit jeder meine ich eigentlich nur Dean. Dean hier, Dean da. Ich habe es so satt. 

Ich balle sogar die Hände zu Fäusten, um mir meiner Wut Luft zu verschaffen. Wie gerne würde ich ihm das alles einmal ins Gesicht sagen, ihn vielleicht sogar anschreien, ihm eine verpassen wenn möglich. Aber ich habe ja nie die Gelegenheit dazu, entweder schikaniert er mich oder er haut mich mit seinen Worten um. Es ist zum Verrückt werden. Ich bin so in meine Gedanken versunken, dass ich gar nicht darauf geachtet habe, wohin mich meine Füsse überhaupt hinführen. 

Ohne, dass ich es will habe ich den Weg zum Wald eingeschlagen und als ich stehen bleibe, realisiere ich, dass ich bereits am Waldrand stehe. Die grossen Nadelbäume stehen bedrohlich dicht nebeneinander, vereinen sich zu einer grünen, stacheligen Mauer die keiner zu überwinden wagt. Eine Krähe flattert über meinen Kopf hinweg und kräht, als ob sie mich vor irgendetwas warnen wollte. 

Aber vor was, oder soll ich besser sagen vor wem? 

Denn ich habe auf einmal das Gefühl, dass ich nicht alleine bin. Sicher leben hier auch einige Wildtiere wie Rehe, Hirsche, vielleicht sogar auch Elche. Ob es hier auch Bären, Luchse oder Wölfe gibt? Ich kann mich nicht erinnern jemals eine Warnung oder so gehört oder gelesen zu haben. Aber da wäre noch der schwarze Wolf. 

bernsteinfarbenWhere stories live. Discover now