Six

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Was erlaubt Dean sich eigentlich? So wütend wie schon lange nicht mehr- und das ist die Untertreibung des Jahrhunderts- trete ich den Heimweg an. Kopfschüttelnd laufe ich die Strasse rauf und betrachte die herumliegenden Blätter, die ein Rascheln erzeugen, als ich durch sie hindurch laufe. 

Der Wind frischt auf und trägt den Geruch des herannahenden Winters zu mir. Ich schlinge die Jacke enger um mich und konzentriere mich auf den Weg. Doch meine Gedanken kreisen ständig um Deans Verhalten. Zuerst drangsaliert er mich wo er nur kann und das über Jahre und dann, dann entschuldigt er sich so mir nichts, dir nichts und denkt das es damit gegessen ist. Um dann nur wenig später wieder zuzuschlagen, wenn auch nicht mit den Fäusten sondern mit seinen Worten. 

Und die treffen mich mehr als es seine Schläge je tun würden. Wieso das so ist weiss ich auch nicht, aber vielleicht- eines Tages- werde ich es herausfinden. Aber eben nur vielleicht. Ich stehe vor meinem Zuhause und weiss nicht ob ich reingehen soll. Es brennt kein Licht, also sind meine Eltern nicht zuhause. Wie immer. Niedergeschlagen setze ich mich auf die Veranda und stütze meinen Kopf mit den Händen ab. Schaue den Blättern zu, wie der aufkommende Wind sie über die Strasse wirbelt. Was Dean jetzt macht? Und wohin ist er auf einmal verschwunden? Ich starre ins Nichts, als ein Wolfsheulen mich erschreckt. Ich stehe auf und schaue mich um, eine leise Stimme flüstert mir zu, dass es sich um den schwarzen Wolf handelt, der mich seit zwei Jahren an Halloween besucht.

 Doch ich kann nichts erkennen, ich kneife sogar die Augen zusammen um besser sehen zu können. Doch da ist nichts, rein gar nichts. Keine gelben Augen, die wie flüssiges Gold schimmern, kein schwarzes Fell, das wie Samt schimmert. Ich werde noch verrückt, kopfschüttelnd gehe ich die drei Treppenstufen nach oben und schliesse die Haustür auf. Wie ich es mir gedacht habe, sind meine Eltern nicht Zuhause. Wahrscheinlich sind sie wieder im Krankenhaus. Wie immer. Manchmal würde ich ihnen am liebsten sagen, dass sie sich entscheiden müssen. Ich oder das Krankenhaus. 

Aber ich mache nie den Mund auf, auch wenn es mich- wie heute- fast in Tränen ausbrechen lässt. Denn nie sind sie da wenn ich sie brauche. Das war schon so als ich kleiner war, damals passten noch meine Grosseltern auf mich auf. Doch als sie vor knapp zehn Jahren gestorben sind, bin ich mehrheitlich auf mich alleine gestellt. Manchmal hatte ich eine Babysitterin, die aber mehr an ihren Dates interessiert war, als sich um mich zu kümmern. 

Also lernte ich mit neun Jahren schon wie man sich Spaghetti kocht und als ich das einigermassen beherrschte kochte ich auch andere Gerichte. So ergab sich einiges und irgendwann schickte ich die Babysitterin nach Hause und sorgte für mich selbst. Ob das meine Eltern so wissen weiss ich nicht, aber vielleicht interessieren sie sich auch gar nicht für mich. Niedergeschlagen gehe ich nach oben in mein Zimmer, hole die Steppdecke meiner Grossmutter aus dem Schrank und wickle mich darin ein. 

Sie riecht nicht mehr nach ihr, aber sie erinnert mich trotzdem daran. So sitze ich eine ganze Weile im Schneidersitz auf meinem Bett und starre ins Nichts. Meine Gedanken rasen trotzdem und scheinen nie stillzustehen. Was mich manchmal nicht stört, bringt mich heute fast um den Verstand. Also stehe ich auf und stöbere in meinem Bücherregal herum. Ich lese eigentlich sehr gerne, aber in der letzten Zeit hatte ich keine grosse Lust dazu. 

Aber heute zieht es mich in eine fremde Welt, die mich von meiner eigenen ablenkt. Doch keines der Bücher scheint nach mir zu rufen, also ziehe ich das alte Buch mit dem roten Lederrücken heraus und niese, als der Staub sich von der glatten Oberfläche löst und in die Luft getragen wird. Ich betrachte die goldene Schrift auf dem Band und rufe mir die Stimme meiner Grossmutter ins Gedächtnis. Sie hat mir früher jeden Abend aus diesem Buch vorgelesen. 

Es handelt sich um eine Sammlung von Sagen und Mythen. Manchmal hab ich mich vor der einen oder anderen Geschichte gegruselt, sie aber heimlich doch gelesen. Das war vor allem nach dem Tod meiner Grosseltern, die bei einem Unfall ums Leben kamen. Ich wollte ihnen nahe sein, mich an sie erinnern und meine Angst überwinden. Denn das war der Leitspruch meiner Grossmutter. Tue jeden Tag etwas das dich ängstigt. 

bernsteinfarbenWhere stories live. Discover now