Kapitel 16 - Blau

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Ich saß im Kleiderschrank meiner Eltern. Beide Türen waren geschlossen. Schon früher war das der Ort gewesen, an dem ich mich versteckt hatte, wenn es mir mies ging und das ging es mir gerade. Ich fühlte mich schlecht, weil ich Luke eine Abfuhr erteilt hatte. Ich hatte meine Knie angezogen und den Kopf auf sie gebettet. So zusammengekauert starrte ich in die Dunkelheit. Ich musste mich mental erstmal darauf vorbereiten, dem Australier wieder unter die Augen zu treten. Hier würde er mich aber vermutlich erstmal nicht finden. Mir stiegen Tränen in die Augen und überschwemmten mein Gesicht. Wieso weinte ich jetzt? Ich wollte ihn nicht küssen, oder? Der Knoten, der sich immer noch in meinem Bauch befand, machte mir klar, dass ich zwei Optionen gehabt hatte. Möglicherweise hatte ich die falsche gewählt. Aber was wäre passiert, wenn ich es getan hätte? Wäre die Situation dann nicht noch peinlicher als jetzt gerade. Hätte, hätte, hätte. Der Spruch sollte nicht lauten: Wenn das Wörtchen 'wenn' nicht wär. Sondern: Wenn das Wörtchen 'hätte' nicht wär. Okay, das funktionierte nicht. Vermutlich hätte der Kuss eh nichts bedeutet. Wer wusste schon, wie lange Luke noch hier wohnen würde und ob ich ihn dann je wieder sehen würde.

Ich nahm mein Handy heraus und schrieb Aaron eine SMS

OMG, A, Luke und ich haben uns fast geküsst. Was soll ich tun? >___<

Kurz darauf kam eine Antwort:

:0 Morgen musst du mir alles erzählen und jetzt verhalte dich am besten so, als wäre nichts gewesen!

K, danke

Schrieb ich zurück.

Ich beschloss, mich aus meinem Versteck zu wagen und Aarons Rat zu folgen. Also wischte ich mir die Tränen fort, strich mein Haare glatt und stieß die Türen auf. Ich würde jetzt einfach so tun, als wäre nichts passiert, wie A mir empfohlen hatte. Luke saß im Wohnzimmer und schaute Fernsehen. Er grinste mich an: "Es läuft ein Big Bang Theory Marathon." Offenbar tat er ebenfalls so, als hätten wir uns eben nicht fast geküsst. Was mich einerseits erleichtert aufatmen ließ und andererseits ein wenig verletzte.

Den restlichen Tag über war die Stimmung zwischen uns fast wieder normal, aber man spürte trotzdem eine gewisse Spannung und auch an dem Blick, mit dem er mich immer wieder ansah merkte ich, dass es ihn doch nich ganz so kalt ließ, wie er vorgab. Die Spannung war auch noch nicht verflogen, als wir uns abends ins Bett begaben. Luke nörgelte rum, dass wir schon so früh schlafen gingen und ich argumentierte damit, dass ich morgen zur Schule müsse. Schließlich gab er nach, drehte mir aber unter der Decke den Rücken zu und ließ kurz darauf ein leises Schnarchen hören.

Da saß ich wieder, auf Lukes Schoß, die Gitarre in unseren Händen. Doch diesmal gab ich ihm nicht nur einen Kuss auf die Wange. Diesmal ließ ich zu, dass Luke sich noch näher zu mir beugte und seine Lippen auf meine legte. Ich schloss die Augen und presste mich gegen ihn. Er ließ das Musikinstrument auf den Boden gleiten und zog mich mit, als er sich zurücklehnte. Ihn zu küssen fühlte sich ganz anders an, als erwartet, irgendwie vertraut. Nun lagen wir auf meinem Bett und unsere Knutscherei wurde immer wilder. Ich hatte immer noch die Augen geschlossen, bis der Person unter mir ein Stöhnen entwich, das sich so gar nicht nach Luke anhörte. Ich riss die Augen auf und sah direkt in das Gesicht meines Ex. Mit einem entsetzten Schrei kam ich auf die Beine und blickte mich um: "Wo ist Luke?" Er grinste nur dreckig und kam wieder auf mich zu. Ich machte auf dem Absatz kehrt und rannte los.

Schweißüberströmt wachte ich mitten in der Nacht auf. Bis auf das Licht aus dem Flur war es stockdunkel und ich konnte kaum etwas sehen. Mit zitternden Händen schaltete ich meine Nachttischlampe ein, versicherte mich, dass auch wirklich Luke neben mir lag und versuchte dann wieder weiter zu schlafen, was mir auch irgendwann gelang.

Homeless Boy - Luke HemmingsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt