Drei Probleme und der Käpt'n ist ausnahmsweise keines davon

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Am nächsten Morgen kam ein schnaufender Tom zu mir gerannt. Er blieb kurz vor mir stehen und stammelte irgendetwas, das ich nicht verstehen konnte. "Okay, Tom, Tom. Hey. Shh. Komm runter. Ist jemand gestorben?" Er schüttelte den Kopf. "Ist jemand am Sterben?" Erneutes Kopfschütteln. "Gut, dann beruhigen wir uns jetzt, okay?" Er nickte. Nach ein paar Sekunden fragte ich dann: "Okay, also, was ist passiert?" "Brosnan hat- wusstest du- Geschlecht- was-" Ich zählte eins und eins zusammen und fragte: "Hat er dir von seiner Dysphoria erzählt?" Tom sah kurz verwirrt aus. "Davon, dass er sich mit seinem Geschlecht nicht wohlfühlt." Sein Gesicht hellte sich auf und er nickte. "Und was hast du gesagt?", fragte ich. Tom kicherte nervös. Dann sah er mich einfach schuldig an und ich ahnte Schlimmes. "Bist du etwa einfach weggerannt?!" Plötzlich waren seine Schuhe unendlich interessant. "Ach du meine Güte!" "Was hätte ich denn bitte antworten sollen? Wie antwortet man auf sowas? Was wird aus uns werden? Was-" "Okay, als allererstes", unterbrach ich ihn, "hat Brosnans Geschlechtsidentität weder etwas mit eurer Beziehung noch, um ehrlich zu sein, mit dir zu tun. Das beste, was du tun kannst, ist, ihn zu akzeptieren und ihn so wie immer behandeln. Und ihn bei allem unterstützen. Umarme ihn oder was weiß ich. Dieses ganze Zeug. Und jetzt geh zurück zu ihm. Husch!" Tom nickte verstehend, kicherte nervös und verschwand in den Flur.

"Interessant." Ich fuhr herum und Olivia lehnte arrogant wie eh und je in der Tür. Sofort fiel mir wieder ein, was Johannes mir gebeichtet hatte. Wie kann man sich nur in so eine Person verknallen? Ich hatte ihn in den Arm genommen und ihm gesagt, dass alles gut werden würde und dass wir einen Weg finden würden, damit sie ihn zurückmochte, aber ich wusste nicht einmal, ob ich das wollte. Aber ob ich das will, tut nichts zur Sache, sagte ich mir. "Was ist interessant?" "Das Thema Dysphoria gab es ja schon lange nicht mehr." "Natürlich gab es das", antwortete ich wütend, "es wurde nur unter den Tisch gekehrt." Sie nickte ironisch. "Na klaaar. Das ist doch alles pure Einbildung. Nichts als Wichtigtuerei." Da wurde ich sauer. Und zwar so richtig. Ich hatte mich viel zu lange von ihr unterdrücken lassen. Das hatten wir alle. Aber das würde jetzt aufhören.

"Okay, jetzt hör mir mal zu, du ignorantes Arschloch", sagte ich und packte sie am Kragen. "Du kannst mich beleidigen, soviel du willst, du kannst mich von oben bis unten abknutschen, du kannst mit mir machen, was du willst, aber beleidige niemals, nie-mals einen meiner Freunde. Du hast keine Ahnung von Dysphoria und nur deshalb hast du Angst davor. Weil Menschen das fürchten, was ihnen ungewiss ist. Du hast Angst. So einfach ist das. Deshalb bist du so arrogant. Aber das hört ab jetzt auf. Mir ist egal, in welcher Machtposition du bist. Ich hab sowas von die Schnauze voll von dir." Sie starrte mich entgeistert an. "Hier ist niemand, vor dem du 'cool' sein musst. Meine Güte, sei doch einfach du selbst." Ich sah, wie sie schluckte. Ihr Fassade war am Bröckeln, das wusste sie. Sie drehte sich um und wollte gehen, aber auf einen Instinkt hin packte ich ihren Arm und zog sie zurück. Und dann umarmte ich sie. Einfach so. Weil ich das Gefühl hatte, dass sie das brauchte. Nach ein paar Sekunden löste ich mich von ihr. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie hatte ein sehr schönes Lächeln. Jetzt wusste ich, warum Johannes sie mochte. Er hatte wie immer vor allen gesehen, wer sie wirklich war. Doch dann küsste sie mich. Es war ein sanfter Kuss. Ein guter Kuss. Aber es fühlte sich falsch an. Ich drückte sie ein bisschen weg. Sie versuchte es erneut, aber diesmal stieß ich sie von mir. "Olivia, hör zu-" "Nein. Schon gut. Ich weiß es ja. Du liebst L- äh, ich meine...den Käpt'n." Ich nickte. "Es tut mir leid." Ein bitteres Lächeln lag auf ihren Zügen. "Ich weiß." Sie verließ das Zimmer. Niedergeschlagen sah ich zu Boden. Sie hatte mir ihr wahres Ich gezeigt und ich musste sie zurückweisen.

Plötzlich konnte ich laute Rufe von oben hören. Ich wollte gerade das Zimmer verlassen, da erschütterte das Schiff gewaltig und ich wurde quer durch den Raum geschleudert. Stöhnend richtete ich mich auf und wurde sofort wieder von den Füßen gerissen. Mein Kopf dröhnte. "Verdammt, kannst du mir nicht eine Minute Ruhe lassen?!", schrie ich gen Decke. Ich ging auf alle vier Füße und krabbelte so schnell ich konnte in Richtung Flur. Immer wieder wurde ich von meinem Kurs abgebracht, das Schiff schaukelte gewaltig. Ich hatte sofort gewusst, dass es ein Sturm war, so plötzlich war einer aber noch nie gekommen. Ich hörte Donnergrollen und gleißende Blitze erhellten sogar das Unterdeck. Als ich den Türrahmen erreicht hatte, konnte ich Olivia bewusstlos da liegen sehen. Schnell krabbelte ich zu ihr und rüttelte sie wach. Sie stöhnte schmerzerfüllt auf und ich konnte eine Platzwunde an ihrem Hinterkopf erkennen. Ich fluchte. Erneut kippte das Schiff und ich tat mein bestes, um sie von dem Aufprall abzuschirmen. Ich biss die Zähne zusammen, um den Schmerz zu unterdrücken. Wir haben drei Sekunden Zeit bis die nächste Welle kommt, dachte ich. Olivia war nur halb bei Bewusstsein, sie konnte mir nicht helfen. Schnell überlegte ich mir einen Plan. Dann waren die drei Sekunden vorbei und ich musste sie erneut abschirmen. Sofort rappelte ich mich auf und schnappte mir ein Seil, das lose im Flur lag. Ich sprintete zu ihr zurück. Ein ohrenbetäubendes Grollen raubte mir fast den Gehörsinn, als die nächste Welle das Piratenschiff erfasste. Dreimal schlang ich das Seil um Olivia. Diesmal konnte ich sie nicht abfangen, sie prallte mit dem Kopf auf den Boden und verlor endgültig das Bewusstsein. Dann nahm ich das Seil und band es an eine Türklinke. Als wir wieder erschüttert wurden, wurde Olivia nicht durch die Gegend geworfen. Die Knoten hielten. Ich führte innerlich einen kleinen Siegestanz auf. Ich rannte zur Treppe. Wumm. Ich rannte die Stufen hoch. Wumm. Ich rannte an Deck und meine Augen suchten sofort nach dem Käpt'n. Wumm. Ich wurde durch die Luft geschleudert. Ich fühlte das Salzwasser auf meinem Gesicht, es schnitt in meine Haut wie kleine Nadeln. Ich landete auf dem Boden. Wumm. Wieder flog ich. Und dann flog ich tatsächlich. Ich hatte mich wieder daran erinnert, dass ich fliegen konnte. Daran werde ich nich wohl nie gewöhnen, dachte ich. Ich schwebte ein bisschen höher und verschaffte mir einen Eindruck von der Lage: die Mannschaft klammerte sich an allem fest, was sie finden konnten, der Käpt'n brüllte erfolglos Befehle, die Segel flatterten durchlöchert und von den Blitzen verbrannt im Wind und das Schiff stöhnte bei jeder Welle tiefer. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, bis ich sah wie ein Mann in hohem Bogen von Bord flog. Ich stürzte mich in die Tiefe und fing ihn auf. Ächzend schleppte ich ihn zurück nach oben und sorgte dafür, dass er guten Halt hatte. Wieder flog ich hoch. Da sah ich einen Mann in den Wellen, der den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet hatte und hilflos mit den Händen herumfuchtelte. Wieder stürzte mich herunter und zog ihn aus dem Wasser. Das tat ich wieder und wieder, bis der Sturm verebbte, das Schiff halb im Wasser lag, die Crew alle Kraft verloren hatte und mir meine Dienste versagten. Ich schaffte es gerade noch, mich halbwegs sanft aufs Schiff sacken zu lassen. Ich mach nur kurz die Augen zu...

She saved me from the storm | ✅Where stories live. Discover now