The first meeting

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Jeff's part

 "Liu. Du lebst?", fragte ich. "Aber... das is nich möglich."
Verwirrt starrte ich meinen Bruder an und musterte ihn von Kopf bis Fuß.
Seine Kleidung klebten ihm schweißüberströmt am Körper und sein Oberkörper bebte vor Anspannung.

"Bist du denn nicht glücklich darüber?", entgegnete er und sah mich mit einem seltsamen Blick an, der sowohl Trauer als auch Enttäuschung ausdrückte. Seine Stimme klang ein wenig kratzend, aber er war wie immer - abgesehen von der Tatsache, dass ich ihn doch eigentlich getötet hatte. Sollte ich mich jetzt darüber freuen, dass er noch am Leben war? Darüber, dass er jetzt hier in einer meiner Fallen hing? Darüber, dass ich ihn jetzt am Hals hatte, wo er doch so oft genervt hatte?

"Ich weiß es nicht", sagte ich langsam und vorsichtig, aber ehrlich. Ich wollte meinen Bruder schließlich nicht belügen. Oder wollte ich das? ... Nein!
Eine Mücke schwirrte plötzlich vor meinem Gesicht herum und summte fröhlich vor sich hin. Wie als wenn sie mich verhöhen wollte, blickte sie mich grinsend an. Ich zerquetschte sie mit Daumen und Zeigefinger und sagte dann noch: "Wieso bist du gekommen?"

Er sah mich leicht verständnislos an, als wäre die Antwort darauf das natürlichste auf der Welt. "Du bist mein Bruder", antwortete er dann. "Mum und Dad sind tot. Ich habe niemand anderen mehr. Sie alle halten dich für ein Monster. Ich nicht. Obwohl du Menschen tötest und Spaß dran hast, bist du immer noch mein Bruder. Und das ändert sich nicht." Bei diesen Worten klang seine Stimme sehr klar und ich sah keine Lüge in seinem Gesicht. Ich fuhr mir nachdenklich mit der Hand durchs Haar. Dann schaute ich auf mein Messer, dessen Klinge immer noch mit seiner gekreuzt war. "Du wirst mich nicht umbringen. Das weiß ich", meinte mein Bruder mit entschlossener, fester Stimme. Mein Bruder...
Hatte ich das tatsächlich gerade gedacht? War er denn wirklich noch mein Bruder? Nach allem, was ich ihm angetan habe, verstünde ich eigentlich, wenn er mich sofort umbringen würde, nachdem ich ihn daraus geholt hätte. Aber konnte Liu das überhaupt? ... Nein. Liu war nur ein naiver kleiner Teenager... der jedoch für mich in den Jugendknast gegangen war...
Ich ließ das Messer sinken. Liu lächelte und schluckte kurz. Ich ging zu dem Baum, an dem sein Netz hing und kletterte auf den Ast, der es hielt. Vorsichtig stach ich das Seil mit dem Messer ab, hörte ein Krachen und Liu landete auf allen Vieren auf dem Boden. Ich sprang wieder herunter.  "Jeff", sagte er lächelnd. Ich seufzte. Dann ging ich auf ihn zu und umarmte ihn. 

"Es tut mir Leid", erwiderte ich und, ich weiß selbst nicht wieso, aber in diesem Moment tat er mir wirklich Leid. Er klopfte mir sanft auf die Schulter. "Schon okay", flüsterte er - er, mein Bruder, den ich wegen mir selbst fast verloren hätte.

"Komm erstmal mit, was Essen, ich muss dir sowieso gleich zu Anfang jemanden vorstellen", sagte ich, löste mich von ihm und lief los, in Richtung der verlassenen Blockhütte, die aber jetzt doch nicht mehr so ganz verlassen war, wie als ich sie entdeckt hatte...

My life after the first murder (Creepypasta)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt