1. Albtraum

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Als ich die Augen aufschlug, starrte ich verdutzt auf den Bogen in meiner ausgestreckten rechten Hand.
Er war gespannt, die Sehne und ein gefiederter Pfeil kitzelten meine Wange, ein Luftzug blies meine Haare nach hinten. Sie waren offen. Wie ungewöhnlich von mir.
Stirnrunzelnd wollte ich den Bogen absetzen, wollte mich umsehen, doch irritiert stellte ich fest, dass mein Körper mir nicht gehorchte. Nicht ein Muskel zuckte, ich runzelte also nicht einmal die Stirn, obwohl ich es ihr befahl.
Während das Unbehagen in mir wuchs, versuchte ich wenigstens, meinen Blick auf meine Umgebung zu schärfen statt auf mein Ziel, jedoch ohne Erfolg. Doch an den verschwommenen Braun-, Rot- und Gelbtönen erkannte ich, dass ich in einem Wald sein musste. Jetzt spürte ich auch das feuchte Laub, dass meine Unterschenkel durchnässte, langsam, aber sicher, ebenso den Stoff, auf dem meine Beine ruhten und den, der meine Arme hochgekrempelt war und in meinem Nacken lag. Ein Mantel?
Ich wusste es nicht.
Das warf Dutzende neue Fragen auf:
Seit wann zielte ich mit einem Bogen, der zum Töten geschaffen worden war und nicht mit einem Sportgerät? Warum trug ich offene Haare und einen Mantel? Was suchte ich im Wald? Wieso gehorchte mir mein Körper nicht? Seit wann konnte ich auf meinen Unterschenkeln sitzen?
Und die beinahe wichtigste Frage:
Auf was zielte ich?
Nun, zumindest die konnte ich mir beantworten, denn darauf war ja schließlich mein Blick gerichtet.
Es war...ein Löwe!
Hätten mir meine Muskeln gehorcht, hätte ich nach Luft geschnappt.
War ich denn völlig übergeschnappt?! Einen Löwen erschießen zu wollen?!
Am Rande registrierte ich, dass der Wind aus der Richtung des Löwen kam, er mich also nicht wittern konnte.
Warte mal... Was suchte ein Löwe in einem deutschen Wald? Waren die nicht normalerweise in der Savanne? War das hier etwa so etwas wie ein Naturschutzgebiet? Wenn ja, dann hatten sie es ihm aber nicht sehr heimatlich gemacht. Oder befand ich mich gar nicht mehr in Deutschland? Und warum wollte ich den Löwen erschießen, egal ob das hier ein Naturschutzgebiet war oder nicht? Rache? Ein Auftrag? Langeweile? Mein Beruf?
Ich konnte mich überhaupt nicht erinnern.
War ich vielleicht betrunken oder so? Nein, dafür dachte ich zu viel und zu rational nach, hoffte ich. Aber vielleicht hatte ich ja davor getrunken, das würde zumindest meine Gedächtnislücke erklären. Und das irrwitzige Vorhaben, ein Raubtier zu töten. Wer wusste schon, ob ich im Suff irgendwas versprochen hatte. Ich hatte nämlich keine Ahnung, wie ich mich verhielt wenn ich trank, denn das hatte ich bisher noch nie.
Zum Teufel mit der Vergesslichkeit, was suchte ich hier?!

Bevor ich jedoch wirklich in Panik geraten oder weiter über meine Situation grübeln konnte, ließ ich - gegen meinen Willen - die Sehne los.
Der Pfeil zischte durch die Luft, doch ich beachtete ihn gar nicht, sondern konzentrierte mich voll und ganz darauf, den Bogen nicht zu bewegen, den Blick vollkommen auf den Bogen fixiert. Zumindest tat das der Teil an mir, der sich gerade durchsetzte und das war definitiv nicht mein Verstand.
Ich hörte das jäh abbrechende Zischen und mir wurde übel.
Auch ohne aufzusehen wusste ich, dass ich den Löwen tödlich getroffen hatte, sonst könnte ich ihn wenigstens noch einmal Fauchen hören.
Eines der Lebewesen, die mich faszinierten, die ich beinahe verehrte, hatte ich getötet. Ich hatte getötet, auch wenn es 'nur' ein Tier war.
Während "ich" in aller Seelenruhe den Bogen abspannte, ihn in sein ledernes Futteral steckte, das an meinem Rücken hing und ihn mir wieder über die Schulter hängte, überschlugen sich meine Gedanken.
Das merkwürdig helle Leuchten am Rande meines Gesichtsfeldes nahm ich zwar wahr, schenkte ihm jedoch keine größere Beachtung.
Ich konnte nur daran denken, dass ich für den Tod eines Lebewesens verantwortlich war, selbst als ich anfing loszukrabbeln. Doch dann riss mich meine Umgebung kurzweilig aus meiner Trance.

Wie ich vermutet hatte, befand ich mich in einem Wald und den Bäumen nach zu schließen, war es tatsächlich ein Deutscher. Ich trug wirklich einen Mantel und erst jetzt bemerkte ich das Paar schwarzer Handschuhe an meinen Händen.
Schon war ich an meinem Ziel angekommen.
Doch wohin war der Löwe verschwunden? Vor mir lag ein nackter Junge, doch wo war der Löwe?
Moment Mal, er war nackt?!
Er lag auf der Seite, den Rücken mir zugewandt und mein Ich studierte lediglich sein Gesicht, sodass mir das Peinlichste erspart blieb. Gedanklich schaudernd stellte ich fest, dass mich der Anblick nicht erröten ließ.
Was war nur los mit mir? War das wirklich ich?

Der Junge, wohl eher junge Mann, hatte rabenschwarzes, kurzgeschnittenes Haar, helle Haut, erschreckend tiefliegende Augen, so, als habe er tagelang nicht geschlafen, eine lange, grade Nase und ein markantes Kinn. Zuhause hätten ihn die Jungs sicherlich als eitlen Schönling und die Mädchen als Traummann eingestuft.
Plötzlich drehte ich ihn auf den Rücken und beinahe sofort sprang mir der Pfeil in seiner Brust ins Auge. Er war schwarzgefiedert.
Die Erkenntnis kroch langsam in mir hoch, zusammen mit dem bitteren Geschmack von Galle.
Bitte lass das nicht wahr sein., flehte ich stumm.
Aber halt, das konnte gar nicht sein. Ich meine, ich hatte einen Löwen erschossen, keinen nackten jungen Mann.

Ich hob den Blick, sah mich um.
Wonach suchte ich?
Egal wonach ich eigentlich suchte, ich konnte keinen Löwen weit und breit entdecken.
Meine Hoffnung sank.
Aber wie war das möglich? Wie konnte aus dem Löwen ein Mann werden? Hatte ich mich vielleicht getäuscht und es war gar kein Löwe gewesen? Oder hatte ich-
Mein Gedankengang wurde abrupt unterbrochen, als ich wieder den Blick senkte und mich zu der Brust des Mannes herabbeugte, merkwürdigerweise sehr bedacht darauf, den Pfeil nicht zu berühren.
Mein Ohr war kalt, im Gegensatz zu der Brust auf dem es lag, wobei ich nicht spürte, wie sie sich hob und senkte.

Ein Herzschlag.
Noch einer.
Doch dann blieb alles still.

Eigentlich wollte ich mich fragen, ob ich ihn wirklich getötet hatte, warum, und warum "ich" das tat, es überhaupt zuließ, ich wollte weinen, wollte schreien, wollte den jungen Mann um Verzeihung bitten.
Doch stattdessen hob ich den Blick zum wolkenverhagenen Himmel, ließ den Wind über mein Gesicht streichen, atmete einmal tief ein und lachte dann aus vollem Halse.

Es klang grauenhaft, mit einer Spur Wahnsinn darin, und ich lachte, bis ich keine Luft mehr zum Atmen hatte und selbst dann lachte ich weiter, während die ersten Regentropfen mein Gesicht trafen und ich spürte, dass ich weinte.

Nach Luft schnappend schoss ich aus dem Bett, hektisch flog mein Blick in alle dunklen Ecken meines vertrauten Zimmers, während mich der grollende Donner eines Gewitters zusammenfahren ließ. Ein Blitz erleuchtete mein Zimmer und ich robbte entsetzt an den Rand meines Bettes, als ich gegenüber von mir eine Gestalt erkannte.
Erst beim zweiten Blitz erkannte ich mich selbst, völlig verängstigt in meinem gegenüberliegenden Spiegel.
Nur langsam beruhigte sich mein rasender Herzschlag und ich war so erleichtert wie noch nie, dass ich die Stirn runzeln konnte.
Was war das gewesen? Ein Albtraum? Aber so real war noch nie einer gewesen.

Eine Weile dachte ich noch über alle Einzelheiten in meinem Traum nach, über mein Handeln, den jungen Mann, die Umgebung dort und sah das Ganze sogar symbolisch, doch ich gelangte zu keiner anderen Erkenntnis. Es musste ein ganz normaler Albtraum gewesen sein.

Doch ein kleiner, leiser Teil in mir wusste, dass das eine Lüge war, dass ich die Hintergründe lediglich nicht verstehen konnte, was auch der Grund war, weshalb es schier unendlich lange dauerte, bis ich einschlief.

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So, ich schreibe die ersten Kapitel nochmal etwas um, mal sehen, wie es euch gefällt.

Nuoli

Die mit vielen NamenWhere stories live. Discover now