15. Die Jagd

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Majikku

Irgendwie schien die Zeit langsamer und schneller zugleich zu vergehen, seit ich von Louis geweckt geworden war. Schneller, weil ich mich vor dem Abend fürchtete und ihn gleichzeitig herbeisehnte, damit das zermürbende Warten ein Ende hatte. Die Vorstellung, den Tod eines Lebewesens zu beobachten, während es sich anfühlte, als wäre ich dafür verantwortlich, ließ in meinem Magen ein bodenloses Loch entstehen.
"...deswegen würde ich dir dazu raten - He, Kleine, hörst du mir überhaupt noch zu?"
"Das ausgerechnet du mich klein nennst.", murmelte ich, eher zu mir selbst.
"Das blöde Federvieh soll endlich von meinem Rücken herunter!", forderte Ayita nun schon zum Hundertsten Mal.
Seufzend antwortete ich noch einmal:
"Es mag ja sein, dass du Fredolin nicht magst, aber er kann unmöglich mit dir mithalten."
Ayita schnaubte.
"Das ist doch nicht mein Problem."
"Denk nicht daran, ihn abzuwerfen.", meinte ich scharf. Da wir nun schon seit Stunden stritten, war ich nicht sonderlich überrascht, dass Ayita mir die Bitte verweigert hatte, im Falle einer Übernahme Felicitas' mit Aadil Kontakt aufzunehmen. Doch ich hatte Aadil immer noch nichts davon gesagt, zum einen, weil ich insgeheim hoffte, die Stute möge es sich doch noch anders überlegen. Außerdem war Aadil immer noch mit Elias und seiner Beraterin damit beschäftigt, die Neko aufzuteilen und ich war nicht erpicht darauf, ihn für diese schlechte Nachricht aufzuhalten und die Blicke aller auf mich zu ziehen.
"Ach komm schon, du könntest mir wenigstens jetzt zuhören, wo ich dich darauf aufmerksam gemacht-
"Warum bist du hier? Was willst du?", unterbrach ich ihn, wieder misstrauisch durch die scheinbar harmlose Kommunikation.
Diesmal würde ich keine Ausrede gelten lassen. Denn jetzt, wo ich einen klaren Kopf nur für mich allein hatte, fand ich es merkwürdig, dass dieses Huhn mit mir sprach, überhaupt sprechen konnte und das dies vorher noch niemand bemerkt hatte.
"Ich?", gackerte Fredolin vergnügt.
"Ich will dir nur helfen, weiter nichts."
Ich verrenkte mir den Hals, um in die klugen, schwarzen Knopfaugen zu blicken und fluchte innerlich. Es war durchaus möglich, dass dies die Augen eines tatsächlichen Huhnes waren, konnten gleichzeitig aber auch die Augen eines Menschen sein. Und wenn Fredolin - wenn er überhaupt so hieß - ein Mensch war, dann konnte er bei seiner Geheimnistuerei nur zu den Karasu gehören. Wenn dem so war, durfte ich ihn nicht gehen lassen und musste jede brauchbare Information aus ihm herausquetschen.
"Lüg nicht! Worauf bist du wirklich aus? Du bist ein Spion, nicht wahr?", zischte ich ihm entgegen, ohne darüber nachzudenken.
Das Huhn legte bloß den Kopf schief und gackerte amüsiert:
"Ich? Ein Spion? Von wem?"
Beunruhigt, dass ich ihn vielleicht vorgewarnt hatte, tat ich seine Frage mit der Hand ab. Ich wollte gerade das Thema wechseln, als eine junge, mir unbekannte Frau auf mich zukam.
"Der Schlüssel, oder?"
Bevor ich antworten konnte, machte sie ein merkwürdiges Gesicht und fügte hinzu:
"Oder heißt es die Schlüsselin? Ich meine, schließlich bist du ein Mädchen..."
Sie verstummte verunsichert und ich musste Lächeln.
"Deswegen würde meinen eigenen Namen - Majikku - bevorzugen."
Sie nickte erleichtert.
"Ich wollte dich etwas fragen... Es gibt doch etwas außerhalb dieses Waldes... Eine andere Welt... Wie ist es dort?"
Ich runzelte verwundert die Stirn.
"Wie meinst du das?"
Sie begann nervös ihre Haare zu flechten.
"Naja, ist es ein besserer Ort?"
Ich legte den Kopf schief, was offensichtlich wirkte, als hielte ich sie für dumm, denn sie wurde rot, murmelte ein:
"Vergiss es.", und wollte sich schon abwenden.
"Nein, das denke ich nicht."
Überrascht hielt die junge Frau inne.
"Blut, Tod, Hass, Angst, Verrat, all das findet man auch dort. Der einzige Unterschied liegt meiner Meinung nach in der schneller verstreichenden Zeit."
"Doch auch dort gibt es Liebe, Mut und Vertrauen. Diese Welten sind sich gar nicht so unähnlich, die Menschen haben sich nicht verändert. Wobei, ihr hier habt den klaren Vorteil der Magie.", meinte ich verschmitzt, um meinen plötzlichen Ernst etwas aufzulockern.
Ihr Gesicht blieb ernst und niedergeschlagen und ließ den fertigen Zopf los.
"Die meisten hier haben keine magischen Kräfte, vergiss das nicht, Magierin. Und nicht jeder ist bereit, sein Leben oder das eines anderen zu opfern. Eigentlich wollen viele nur einen sicheren, besseren Ort zum Leben, weißt du?"
Dabei sah sie mir zum ersten Mal mit einem traurigen, ernsten Ausdruck in den Augen ins Gesicht und wartete auf eine Erwiderung.
Ich jedoch wusste nichts zu sagen und starrte sie bloß nachdenklich und ein wenig bedrückt an. Dabei bemerkte ich, wie die junge Frau unbewusst ihre Hand auf ihren Unterleib legte, bevor ich sie jedoch darauf ansprechen konnte, schien die Frau von mir genug zu haben, wandte sich ab und ging wieder zurück in die Kolonne. Ich meinte einen enttäuschten Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen zu haben.
"Siehst du, was ich meine, Kleine? Genau gegen diese Niedergeschlagenheit habe ich Tipps."
Ernst meinte ich:
"Warum hast du dann nicht ihr solche Tipps gegeben? Sie hätte sie gebraucht."
Immer noch gedankenverloren starrte ich der unbekannten Frau nach. Sie hatte Recht. Dieser Clan war keine kriegerische Organisation, die Neko waren wie eine große Familie, die aufgrund eines angeblichen Diebstahls vor zehn Jahren zum Kämpfen gezwungen worden waren. Vorausgesetzt, sie hatten tatsächlich niemanden gestohlen.
"Sie sollte mich nicht sprechen hören können. Das würde nur Panik auslösen, denn nicht einmal du kannst mit dem netten Kätzchen als Überzug sprechen, dass übernimmt immer sie. Ich wäre das erste sprechende Tier, ein neues Mysterium und nur ich fände das amüsant."
"Ach, aber bei mir konntest du ohne jegliche Bedenken Panik auslösen.", meinte ich verärgert, konnte aber das Schmunzeln nicht unterdrücken, beim Gedanken an Felicitas als Überzug. "Außerdem müssten wir mit dieser Logik sofort mit dem Reden aufhören, die Gefahr ist zu hoch, dass wieder jemand so spontan vorbeischaut.", fügte ich nüchtern hinzu.
"Du wolltest doch mitten in die Menschenmenge.", gurrte das Huhn belustigt.
Offenbar konnte man ihm selten die Laune verderben.
"Richtig. Und dabei bleibe ich auch."
Zwar hasste ich es, mich so mitten in einer Menschenmasse befinden, doch andernfalls lief ich Gefahr, mich von diesen Menschen hier abzugrenzen, als wäre ich etwas Besseres. Und diesen Eindruck musste ich unbedingt vermeiden, besonders, wenn wir einmal Seite an Seite kämpfen mussten. Außerdem war ich hier, zwischen den vielen Menschen, von denen manche ebenso vereinzelt wie ich auf Pferden ritten, am besten geschützt, solange sich die drei berieten.
"Ist ja gut. Vielleicht muss ich ja tatsächlich wieder Schweigen. Obwohl es mir schwerfallen wird, besonders, da ich nach so langer Zeit das Schweigen gebrochen habe."
"Wieso eigentlich?", fragte ich dann doch, plötzlich neugierig, doch Fredolin schaute mich nur aus seinen klugen Augen an und schwieg.
Genervt wandte ich mich wieder nach vorn und überlegte fast, Ayita zu erlauben, ihn herunter zu werfen und erntete für diesen Gedanken ein belustigtes Schnauben ihrerseits. Doch noch hatte sie mir nicht vergeben und schwieg mich an, also begann ich gelangweilt ein paar der Gelenkigkeits- und Stärkungsübungen auf ihrem Rücken durchzugehen.
"Verzeihung, störe ich gerade?"
Überrascht hörte ich auf, mich zu dehnen und wandte den Kopf zu der Stimme. "Ella!", rief ich, überrascht, aber auch ein wenig besorgt.
Hatte sie etwa Nyoko gesehen?
"Majikku, richtig?"
"Korrekt."
Ich schmunzelte etwas, denn sie hatte sich tatsächlich meinen Namen gemerkt. Das kam nicht oft vor.
Etwas irritiert ob meines Lächelns zögerte sie, dann fragte Ella:
"Hast du Nyoko gesehen?"
Mein Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. Damit wäre meine Frage wohl beantwortet.
"Nein, habe ich nicht. Soll ich ihr etwas ausrichten?"
Mir war klar, dass ich nicht gerade begeistert klang, aber ich wollte sie auch nicht einfach wegschicken.
Sie winkte schon ab, dann fügte sie rasch hinzu:
"Ihre anderen Freunde haben nach ihr gefragt, richte ihr das aus. Auf eine Bitte, diese zu besuchen, würde sie sowieso nicht hören."
Ich grinste schief.
"Vermutlich nicht, nein."
Ella grinste zurück. Vielleicht kannte sie Nyoko doch näher und die Naivität bei unserer ersten Begegnung hatte getäuscht.
"Also dann, wir sehen uns.", sagte sie plötzlich und war bereits verschwunden, bevor ich etwas hinzufügen konnte.
Diesmal machte ich mir nicht die Mühe, mich zu ärgern oder Fredolin nach seiner Meinung zu fragen, sondern dachte lieber über Ella's Worte nach.
Nyoko hatte andere Freunde? Sie hatte doch gesagt, dass sie noch niemanden gehabt hatte, der nach ihrer Freundschaft gefragt hatte. Hatte sie also gelogen? Oder waren diese Freunde ohne Nachfrage wie bei mir entstanden? Vielleicht hielt Ella diese Freunde auch nur für Nyoko's, so wie Ella ich selbst für ihre Freundin hielt. Und ich. Es frustrierte mich, dass diese Worte schon ausgereicht hätten, mich erneut zu verunsichern.
Mit einem Mal stieg ein unwirsches Knurren in meiner Kehle auf, doch ich fühlte es eher, als dass ich es hörte.
"Meinetwegen lenk' ihr die Stiefel vor lauter Respekt, bis du am Blut und Dreck daran erstickst, aber hör auf, ständig an diese Brudermörderin zu denken, sonst kann ich nicht mehr an mich halten."
Erbost wollte ich etwas Scharfes erwidern, als mich zum dritten Mal jemand ansprach.
"Und du sollst unsere Hoffnung sein? Ein tagträumendes Kind? Da kann ich mich ja gleich in mein Grab legen."
Ein Riese von einem Mann - er konnte mir fast direkt in die Augen sehen, obwohl er auf keinem Pferd aufsaß - starrte mich mit kohlschwarzen Augen und verschränkten Armen an. Er hatte sich so vor Ayita gestellt, dass die Stute diesmal gezwungenermaßen anhalten musste, was weder ihrem oder meinem Wunsch oblag. Das stolze Pferd wollte allein aus Prinzip ihm diese Machtgeste nicht gönnen und weitergehen, doch auf meinen sanften Druck durch die Knie und meinen Wunsch blieb sie widerwillig stehen.
"Auch solchen Menschen muss man Respekt zollen und sie gleichzeitig für sich gewinnen, oder?"
"Wieso musst du ausgerechnet jetzt Recht haben?", meinte sie genervt, gleichzeitig konnte ich jedoch auch sehen, dass ich wieder in ihrer Achtung stieg.
Ich schwieg und versuchte, interessiert und nicht verunsichert auszusehen.
Machte ich wirklich einen so unzuverlässigen Eindruck? Hoffentlich übertrieb dieser Mann in seinem Unglauben und seiner Wut.
"Also, Mädchen, was macht dich ausschlaggebend für diesen Krieg?", fragte er plötzlich geradeheraus.
Da ich selbst schon den ganzen Vormittag über diese Frage nachgedacht hatte, kam die Antwort schneller und mit mehr Selbstbewusstsein, als sowohl der Mann als auch ich es vermutet hatten.
"Im Moment ist mein stärkster Trumpf mein offenes, scheinbar schutzloses Auftreten und die Prophezeiung hinter mir, von der auch die Karasu wissen. Dieser Mangel an Sicherheitsvorkehrungen schützt mich und die Neko mehr als die größte Magie oder das schärfste Schwert, denn so wirken wir unerschütterlich und unbesiegbar. Zusätzlich liegt die Prophezeiung im Raum, die durch eine kleine Kostprobe meiner Magie bereits unumstritten mir zugeordnet werden wird, und wirkt deshalb wie ein zusätzlicher Schild. Und schlussendlich arbeite ich nach besten Kräften zusammen mit euch allen daran, meinen Körper, meinen Geist und meine Magie zu etwas zu bringen, wovor sie sich wirklich in Acht nehmen müssen, während ich mein Bestes tue, die Raubkatzen als Kämpfer für die Verteidigung unseres Zuhauses zu gewinnen."
Er dachte einen Moment über meine Worte nach und meinte dann:
"Woher wissen wir, dass du wirklich auf unserer Seite bist und nicht nur so tust? Jetzt, wo ich dich zur Rede stelle, redest du von Mitarbeit mit uns allen, Schutz für die Neko, ‚wir' und ‚unser Zuhause'. Was sagt mir, dass du dich nicht auf ihre Seite schlägst, wenn du genug unserer Schwächen kennst?"
Ich stutzte.
Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich vom Singular ins Plural gewechselt hatte.
Der Mann missverstand mein Zögern lächelte freudlos.
"Da hat es dir wohl die Sprache verschlagen, was?"
Ich wusste, dass ich kein Recht hatte, zornig auf diesen Mann zu sein, der wahrscheinlich schon seit Jahrzehnten unter den von Angst, Misstrauen, Unglück, Verlust und was auch immer noch gebeutelten Ereignissen gelitten hatte. Doch ich hatte es auch satt, immer wie ein kleines Kind behandelt zu werden.
Diesmal war es Ayita, die mich vor dem schwerwiegenden Fehler bewahrte, auf die Provokation einzugehen.
"Hast du ihn einmal als Verbündeten, hast du einen großen Vorteil. Er hat sich deine wohl überlegten Worte genauestens eingeprägt und wird sie weitertragen. Er ist hier ziemlich geachtet, dass 'einfache Fußvolk' was sich mit bloß mit klaren Worten, Bitten und Antworten zufriedenstellen lässt, wird ihn zumindest anhören. Also vermassle diese Chance nicht."
Am Rande ihrer bewussten Gedanken konnte ich sehen, wie eine geistige Tür - vermutlich das Bewusstsein des Mannes - sich entfernte.
Sie hatte Recht. Wie oft musste ich es eigentlich noch hören? Mein verletztes Ego zählte nicht, ob nun im Kampf um Leben oder Tod gegen Felicitas oder beim Suchen von Verbündeten. Ich hoffte jedoch, dass es meiner Würde nicht genauso ergehen würde, denn dort könnte ich nicht so leicht Abstriche machen, selbst für das große Wohl der Neko.
Ich lächelte, wenn auch etwas gezwungen.
"Ich war selbst überrascht, dass ich schon im Plural spreche, das ist alles. Gibt es eine Möglichkeit, das Misstrauen etwas zu senken?"
Der Mann schien mir nicht zu glauben, doch in seinen Augen sah ich einen Funken Hoffnung, sollte ich tatsächlich die Wahrheit sagen. Und das genügte mir.
"Du solltest deine Versprechen halten. Aber ich werde erst wirklich daran glauben, wenn du in einer Schlacht an unserer Seite stehst."
Ich erwiderte nichts, denn ich würde ihn vermutlich nur gegen mich aufbringen, wenn ich ihm von meinen Zweifeln bezüglich des Kämpfens erzählte. Doch der Mann erschien auch keine Antwort zu erwarten, nickte mir noch kurz nachdenklich zu und verschwand in der Menge.
"Ich scheine heute sogar schon vor der Jagd ununterbrochen geprüft zu werden.", murrte ich halb verstimmt, war jedoch sehr froh, dass die Leute mit ihren Ängsten, Fragen und ihrer Skepsis zu mir kamen, anstatt mich zu meiden.
So konnte ich versuchen, ein Teil der Familie zu werden, anstatt bloß ein Mittel zum Zweck.
"Ehrenwerte Magierin? Ich weiß, es ist vermessen, doch könnt Ihr Euch erbarmen, mich unwichtigen Landsmann anzuhören?"
Wenig überrascht wandte ich mich dem Sprecher zu.
"Ihr seid kein unwichtiger Landsmann, jeder hier ist ein wichtiger Bestandteil der Neko,-
Ich war so froh, endlich mal jemanden getroffen zu haben, der genauso an seiner Wichtigkeit in diesem Gefüge zweifelte, dass ich diesen Text – den ich mir stumm schon seit Tagen selbst herunterbetete – schon halb ausgesprochen hatte, als ich den Mann erkannte.
"Quentin... Nicht wahr?", fügte ich rasch an, damit er meine Nachdenklichkeit nicht bemerkte.
"Ihr erinnert Euch sogar an meinen Namen! Was für eine Ehre von einer solch großen, erhabenen Magierin!"
"Ich? Eine ehrenwerte Magierin?"
Nun war es an mir, skeptisch zu sein.
"Wie kommst du darauf? Noch verstehe ich die Grundlagen der Magie nicht einmal ansatzweise.", gab ich ehrlich zu, denn ich fühlte mich unbehaglich bei so viel ungerechtfertigter Ehrerbietung.
"Einen großen Magier zeichnet auch eine gewisse Bescheidenheit aus, wobei ich Euch versichern kann, dass auch Selbstsicherheit gern gesehen wird..."
Je länger ich ihm zuhörte, desto schneller wollte ich, dass er ging.
Ich hatte gehofft, hier – in mitten einer lebensbedrohlichen Kriegslage und der Aussicht auf Tod und Leid – vor dem Geschleime und dem Schauspiel der Menschen verschont zu bleiben.
Doch in dieser Hinsicht waren die Menschen hier nicht anders.
Der kleine, dicke Mann ging schnaufend hier mir her, wedelte enthusiastisch mit den Armen, pries mich als Botin einer glorreichen Zukunft und versicherte mir, dass man mich für meinen gnädigen Beistand der armen, unbedeutenden Seelen noch in Jahrhunderten in Tempeln anbeten würde, während die Angst, selbst zu kämpfen ihm unter der Haut hervorschimmerte.
Ich vermied es, ihn bei seinem überschwänglichen Lob durch Zustimmung oder Ablehnung anzustacheln, pflichtete ihm aber nach Möglichkeit immer bei, wenn es um für mich vertretbare Dinge ging, wie, dass man die Ermordung der "zu schwachen" Kinder, die bei Einzelgängern in der Kuppel lebten üblich waren, unterbinden sollte.
So vergingen die Stunden.
Der vollkommen haarlose Quentin tat sich inzwischen schwer, mir zu folgen, aber ich konnte mich nicht überwinden, für ihn langsamer zu werden und selbst die bedachte Ayita hatte keine Geduld.
Doch vielleicht war es besser, dass dieser Mann mich am laufenden Band nervte, sodass der Abend gekommen war und ich tatsächlich fast die anstehende Prüfung vergessen hatte.
"Ich habe Hunger."
Ayita bekam davon wie vorher ebenfalls nichts mit, da sie nicht mit Felicitas verbunden war, doch sie bemerkte meine Reaktion, ebenso wie Quentin.
Ich spürte, wie ich leichenblass wurde und ein wenig schwankte.
"Fühlt Ihr Euch nicht wohl, Ehrenwerteste?", fragte er, eher interessiert als besorgt.
"Ich... Ich muss mich den Beratern anschließen.", murmelte ich mit rauer Stimme und spürte meine Kräfte schwinden, als hätte jemand den Stöpsel aus einer vollen Badewanne gezogen.
Ohne weiter auf den Mann zu achten, trieb ich die gehorsame Stute an.
"Was ist los?", fragte sie besorgt, da der Sturm meiner Gefühle zu ihr überschlug.
"Ich muss den Tod zu meinem neuen Weggefährten machen.", meinte ich.
Diesmal blieb jede Form von Humor oder Sarkasmus auf der Strecke, dafür waren Widerwillen und Angst umso größer.
Eine Weile ritten wir schweigend zum Anführer, während ich ihr meinen Geist öffnete und sie versuchte, aus den Gefühlen, Bildern, Gesprächsfetzen, Verträgen und den zwei Persönlichkeiten schlau zu werden.
Schließlich sagte sie:
"Es ist sehr rücksichtsvoll von dir, mich nicht beunruhigen zu wollen. Jetzt verstehe ich auch, warum ich mich diesem Menschen mit dem gleichen ersten Laut öffnen und zwischen euch wechseln soll."
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass sie mit dem ‚ersten Laut' den Buchstaben A meinte, den sie gemeinsam hatten. Irgendwie tröstete mich der Gedanke, dass sie Eigenheiten hatte, die sie als andersartig identifizierten, sodass ich mich auf eine schäbige Art und Weise besser fühlte, dass hier keinem Menschen aufzubürden.
"Natürlich werde ich dich unterstützen, vertrau mir. Sowohl währenddessen also auch danach."
"Das solltest du nicht auch durchmachen müssen, sag einfach dem Anführer Bescheid, solltest du zu starken Blutdurst oder Ähnliches wahrnehmen. Ich gehe sowieso nicht davon aus, dass sie Schwierigkeiten machen wird, wir haben einen Vertrag geschlossen."
"Und trotzdem fragst du mich um Hilfe, also mach dir nichts vor. Aber keine Sorge, ich werde da sein."
"Danke."
Eine mir bis dahin unbekannte Last fiel mir von den Schultern.
"Was hältst du von Quentin?", fragte ich nach einer Weile in dem schwachen Versuch, meine Angst abzumildern.
Ayita dachte eine Weile über die Antwort nach, anstatt mich auf das Hier und Jetzt hinzuweisen oder leichte Konversation zu betreiben, indem sie sich meiner Meinung über ihn vorschnell anschloss - wieder eine Überraschung, die mir die Stute wieder einmal klug hervorhob, klüger, als die allgemeine Meinung von Pferden normalerweise zuließ.
"Er hat sich nach bestem Wissen und Gewissen den Umständen dieser Welt angepasst, um zu überleben. Er sichert sich ab, indem er eure - den Mann mit dem gleichen ersten Laut, Elias, Nyoko's und deine - Meinungen sondiert, euch zustimmt und gleichzeitig seine Meinungen subtil zum Ausdruck bringt. Ich halte ihn für einen angehenden Überlebenskünstler, wenn auch ein wenig amateurhaft, der seinen Schwerpunkt auf Schmeicheleien gelegt hat. Vermutlich wird er selten seine Meinung sagen, aber auf seine Unterstützung kannst du denke ich bauen, auch wenn du ihn gerade einfach stehen gelassen hast."
Ich speicherte ihre Worte ab und nahm mir vor, später darüber nachzudenken, als wir Aadil an der Spitze der Prozession erreichten. Elias bildete vermutlich wieder einmal die Nachhut, doch wo seine Ratgeberin war, konnte ich nur spekulieren.
Ausnahmsweise sprach gerade niemand mit ihm und so bekam ich die Seite des wachsamen Kriegers zum ersten Mal zu Gesicht, der geduldige Diplomat war für den Moment verschwunden.
"Aadil?"
ich wollte ihm zwar Respekt zeigen, jedoch mich ihm - noch - nicht unterordnen, indem ich ihn Anführer nannte.
Die braunen Augen blitzten, als sie mich erfassten, doch dann erkannte er wer ich war und steckte Lidaa wieder ein.
"Du bist es. Der Vertrag, nicht wahr?"
Ich nickte bloß, konnte plötzlich kein Wort mehr herausbringen.
Auf ein Zeichen von ihm näherten sich zwei Männer, nahmen ohne ein weiteres Wort seinen Platz ein, sodass wir uns von den Neko lösen und tiefer in den Wald gehen konnten.
Gerade wollte ich dem sturen Huhn hinter mir sagen, dass es jetzt Zeit war, für ihn zu gehen, als ich merkte, dass Fredolin verschwunden war.
"Verdammt!", rief ich aus, was mir einen verwirrten Blick seitens Aadil eintrug.
"Das Huhn ist verschwunden.", meinte ich missmutig.
"Warum hast du nichts gesagt? Du musst doch gespürt haben, dass er abgestiegen ist!"
"Tatsächlich muss ich es nicht gespürt haben. Er ist viel erträglicher, wenn er still ist."
Glücklicherweise wusste die Stute, dass sich meine Wut nicht gegen sie richtete, sondern gegen mich und das Huhn.
"Ich werde Izanami bitten, nach diesem Huhn zu suchen, im Moment haben wir wichtigeres zu tun."
Da hatte er auch wieder recht.
Eine Weile ritten wir schweigend tiefer in die Dunkelheit, er mit einer von der Wache geliehenen Fackel, ich mit nichts weiter als mit der Angst und dem steigenden Hunger Felicitas'.
"Meine Stute hier-
Ich klopfte Ayita Sanft den Hals-
"wird sich im Notfall an dich wenden. Doch sie könnte ein wenig anders sprechen, als wir es gewöhnt sind. Trotzdem ist sie sehr klug und alles andere als begriffsstutzig. Ich vertraue ihr.", sagte ich leise.
Er nickte, vermied jedoch einen Blick in Ayitas dunkle Augen.
"Hier ist es weit genug.", behauptete Felicitas plötzlich.
"Bist du sicher?", fragte ich skeptisch, denn ich erkannte keinen Plan in ihrem Kopf, bloß einen alles vernichtenden Hunger.
"Bist du die Jägerin oder ich? Kannst du denn nicht ihre Fährte riechen und ihre Atemzüge hören?"
"Nicht mit meinen Sinnen."
Zögerlich tauchte ich in die ihren ein, sah ihre Behauptung bestätigt und zuckte aus ihren Gedanken zurück.
Na schön., gab ich mir selbst einen Ruck und drückte die Beine sanft in Ayita's Flanken.
"Wir... Wir fangen hier an.", brachte ich mühsam heraus, da mich die Verwendung des Plurals viel Anstrengung kostete.
Die Stute ging noch ohne meine Bitte bereits in die Knie und ließ mich absteigen.
Aadil wendete und wartete, während ich mich an die Stute gelehnt sitzend entkleidete, die Klamotten auf Ayitas Rücken legte und nochmal ihre Nüstern streichelte.
"Hoffentlich sehen wir uns morgen wieder."
Sie schnaubte sanft und stupste mich ermunternd an, sagte aber nichts.
Ich krabbelte ein Stück von ihr weg.
"Du hast meine Erlaubnis.", sagte ich an die Raubkatze gewandt.
Die Vorfreude, die wie ein Haufen Ameisen unter meiner Haut gekribbelt hatte, brach sich einen Weg, ohne den gleichmäßigen Schmerz zu beachten, der davon zeugte, dass meine Anatomie sich gewaltsam veränderte.
"Endlich wieder frei! Fressen, mach dich auf eine schnelle Jagd gefasst!"
Eigentlich wollte ich mich noch einmal umdrehen, sehen, was der Anführer tat, doch der Puma folgte bereits der Spur eines späten Hasen.
Einen Moment konnte ich die feine Nase und die Geschicklichkeit, mit der Felicitas mit den Hinterpfoten in ihre von den Vorderpfoten getretenen Spuren trat, bewundern, doch da sah ich den Hasen.
Ein unauffälliges, braunes Exemplar mit ebensolchen Augen, der gerade in seinem Bau verschwinden wollte. Mit einem gewaltigen, fast lautlosen Satz überwand das Pumaweibchen die Distanz zwischen sich und ihrer Beute und während ich instinktiv hoffte, das Tier möge es noch in seinen Bau schaffen, spürte ich fast im gleichen Moment das weiche, warme Fell unter meinen Händen - nein, unter Felicitas Pranken.
Ich wollte mir das einreden, wollte mich distanzieren und die Augen schließen, doch die Realität überging grausam meine Wünsche. Es war wie mein Kopf, der so schnell herabsauste, dass ich erst realisierte, dass ich mit meinen Zähne die Kehle des Hasen aufgerissen hatte, als ich warmes, klebriges Blut im Rachen spürte.
Galle stieg in mir auf und die Übelkeit war so stark, dass sie sogar zum Puma überschwappte, der um ein Haar meinem Bespiel des Magens gefolgt wäre. Stattdessen schüttelte sie sich, als wollte sie eine Fliege verscheuchen und schluckte kurzentschlossen das Blut hinunter.
"Aufhören! Ich... Ich kann das nicht!", schrie ich sie im Geiste an.
Die toten Augen des Tieres starrten mich vorwurfsvoll an - zu recht, doch Felicitas beugte sich ungerührt hinab und riss ein Stück der Flanke heraus, so leicht, wie ich ein Stück einer Karotte abgebissen hätte. Oder dieser Hase.
"Hör sofort auf! Du brichst den Vertrag!", kreischte ich, an der Grenze zur völligen Panik, denn während ich dies Worte an die Jägerin sandte, hatte ich Fleisch, Fell und Blut im Mund.
Ich dachte eigentlich, meine Kehle wäre viel zu eng dafür, doch das Fleisch ging runter wie Öl, als Felicitas schluckte und erwiderte:
"Tue ich nicht, Mensch. Reiß dich gefälligst zusammen, diese Jagd ist versprochen, so wie viele zukünftige. Und nein-, fuhr sie zwischen meine aufgewühlten Gedanken,
"Ich zwinge dich nicht. Du hast mir deine Erlaubnis gegeben. Außerdem muss selbst so ein dummes Ding wie du verstehen, was Hunger ist.", meinte sie, wieder verächtlich wie eh und je.
Wie zur Bestätigung knurrte mein Magen und bevor ich etwas erwidern konnte, ließ mich die Raubkatze erneut ein Stück des Hasen abreißen, diesmal von einem kräftigen Hinterlauf.
Verdammt, ich will nicht, dass sie Recht hat, ich will nicht dabei sein, wenn sie frisst, ich will kein Leben enden sehen!
Und doch musste sie fressen. Und doch musste ich - mit ihr - kämpfen und somit wahrscheinlich auch ein Leben beenden. Aber ich war einfach noch nicht bereit dafür!
Fast im selben Augenblick hätte ich laut gelacht, wäre ich Herrin meines Körpers gewesen.
Wann würde ich denn je bereit sein? War es nicht viel einfacher, sich von einer Meisterin des Jagens ans Töten heranführen zu lassen? Sie als eine Art Mentor zu betrachten, während ich meinen inneren Kampf soweit ausfocht, bis ich eine für mich akzeptable Tatsache gefunden hatte, nach der ich mich richten konnte? Gott, ich war ja so feige. Aber andernfalls würde ich wohl nie töten können, nicht mal, um mein Leben zu retten. Und es war ja nicht einmal gesagt, dass Felicitas mich diesbezüglich "voranbringen" konnte. Letztendlich musste ich sie so oder so zum Fressen begleiten, wenn ich nicht wollte, dass sie verhungerte, ich konnte mich ja nicht von ihr lösen.
Und doch war es einfach widerwärtig, sich zum Richter über Leben und Tod aufzuschwingen.
In dem Moment wurden mir zwei Dinge gleichzeitig klar:
Zum einen würde ich nie wieder Fleisch essen können, ohne dass mich diese Bilder verfolgten, was hieß, dass ich somit gerade zur Vegetarierin geworden war.
Und zum anderen konnte ich Felicitas nicht aus meinem Körper verjagen und sie somit ein zweites Mal dem Tod überlassen, denn damit hätte ich mir selbst eine Berechtigung zum Richten gegeben, die mir nicht zustand.
Die Raubkatze hielt mitten im Kauen inne.
"Tatsächlich? Das Töten wird dir noch schwieriger fallen, als ich dachte."
Dummes Menschlein.
Während ich unfreiwillig diese letzten Worte in ihrem Kopf las, spürte ich zwar Verachtung, aber auch Verwirrung und Neugier ob dieser Einstellung.
Wie kann sie zwischen mir, die ihren Körper jederzeit vollständig kontrollieren könnte und einer Jagdbeute keinen Unterschied machen? Doch vielleicht will sie mich mit diesen Gedanken auch nur reinlegen und in Sicherheit wiegen, bis sie sich von mir lösen kann.
Und wieder einmal hatten wir beide den Vertrag gebrochen und waren in den Kopf des anderen geschlüpft. Wir nahmen es einander beide übel, wenn auch nicht mehr so sehr wie vor dem Vertrag, da wir jetzt wussten, wie schwierig das war.
Doch im Gegensatz zu mir hatte Felicitas etwas, womit sie sich rächen konnte.
Genüsslich biss sie ein Ohr ab und kaute länger als nötig auf dem fleischarmen Stück herum.
"Du musst dich eben daran gewöhnen, Mensch.", meinte sie unschuldig.

Nun, vielleicht würde ich sie nicht vertreiben, aber zumindest würde ich der Raubkatze das Leben verdammt schwer machen.

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Das 15. Kapitel ist da, viel Spaß beim Lesen!

Eure Nuoli

Die mit vielen NamenTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon