22 Alte und neue Wunden (Harper)

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Wie ein hyperaktiver Floh sprang ich aus dieser Position.

Was hatte ich getan? Regungslos stand ich schwer atmend vor Ethan. Zumindest stand ich, er dagegen lummerte lediglich auf seinem Bett und starrte mich derweilen wie eine außerirdische Spezies an.

In null Komma nix schnappte ich mir meine Tasche inklusive meines Shirts, zog mir dieses über und raste darauf die Treppen herunter.

Raus, einfach raus aus diesem Haus mit diesen furchtbaren Erinnerungen und lasterhaften Entscheidungen.

Ich rannte und rannte. Wieso hatte ich mich bloß auf Ethans bescheuerten Vorschlag eingelassen, mein Fahrrad in der Schule zu lassen? Vielleicht weil du mal gerne in seiner Protzerkarre mitfahren wolltest und keiner voraussehen konnte, dass so etwas passiert und du folglich nicht von ihm nach Hause gefahren wirst?

Auf andere wirkte es sicherlich so, dass ich wahllos und verzweifelt durch die Gegend irrte, allerdings wusste ich genau, welchen Platz ich ansteuern sollte. In solchen Momenten gab es ausschließlich diesen einen Ort ...

Jegliche Verbindung zu ihm wie das Fußballspielen hatte ich vernichten wollen, jedoch konnte ich es nicht übers Herz bringen, diesen Ort hinter mir zu lassen. Alles von ihm hatte ich vergessen wollen, dennoch war es dieser Platz, der mir unausweichliche Erinnerungen entlockte, die gleichzeitig höllisch schmerzten, aber auch wie Balsam wirkten; die mir die Luft zum Atmen nahmen, aber ebenso diese Luft waren.

Ich rannte und rannte. Mein psychischer Schmerz, der mir als Motivation für meine Flucht diente, übertrumpfte den körperlichen Hilfeschrei meines Körpers, der drohte zusammenzubrechen: Meine Knie durchfuhr ein Überbeanspruchungssignal, Seitenstechen wurde langsam zu einem Abstechen, meine Gliedmaßen zitterten wie bei einem Tobsuchtsanfall und Tränen strömten kontinuierlich aus meinen Augen.

Endlich erreichte ich mein Ziel. Mit letzter Kraft ließ ich mich neben dem Pfosten fallen.

Ich saß so, dass ich meine Umgebung trotz des Tränenschleiers noch bestens erkannte: Ein Fußballplatz inmitten eines abgelegenen Parks in meiner Gegend mit mehr oder weniger grünem Rasen, verblassten Linienmarkierungen und vermoosten Fußballtoren, von denen der Pfosten des einen mir als Stütze diente. Wenigstens dadurch konnte ich verhindern, mich wie ein Kleinkind auf dem Boden herumzuwälzen. Genau danach war mir im Moment nämlich zu Mute: Meine Wut, Trauer und Verwirrung heraus zu kreischen sowie mich mit dieser Beschäftigung von den eigentlichen Problemen abzulenken.

Beim Anblick des ungepflegten Fußballplatzes fühlte ich mich dreizehn Jahre zurückversetzt. Diese Erinnerungen, die wie Pfeile in mein Herz zielten: Dad, wie er mir zupasste. Dad, wie er jubelte, wenn ich ins Tor traf. Dad, wie er mich stolz in eine seiner unbezahlbaren Umarmungen schloss. All diese Erinnerungssequenzen liefen momentan vor meinen Augen inklusive Tränenfilter ab.

Dieser Ort, warum bedeutete er mir derartig viel und wieso war es ausgerechnet dieser, an dem ich mich am wohlsten fühlte, obwohl ich hier doch jedes Mal aufs Neue herumheulte?

Meinen Kopf auf meinen Knien abgestützt überlegte ich, weshalb ich am meisten am Ende war: Weil ich Ethan geküsst hatte und nein, als wenn das nicht genug wäre, mit ihm fast noch weiter gegangen wäre, oder weil ich meinen Vater seit dreizehn Jahren wieder gesehen hatte?

Immer hatte ich mir gewünscht, er wäre unglücklich ohne Mom und mich, bereute es, uns verlassen zu haben und mache sich Vorwürfe, sich nicht anders entschieden zu haben.

Aber nein im Gegenteil, sein Traum war in Erfüllung gegangen: Er war ein Superstar, Captain bei seiner Lieblingsmannschaft. Verletzte es mich, dass es genau meine ehemalige Lieblingsmannschaft war, in der er spielte? Ja, ich fühlte mich verraten, von dem Verein – sicher, ich wusste, den Verein traf keine Schuld, aber auf irgendwas oder jemanden musste ich meine Wut doch übertragen, wenn mir dies bei meinem Vater nicht einmal vergönnt blieb, der für diese Wut doch erst verantwortlich war. Hätte ich keinen Ableiter, träfe sie mich – nicht dass ich nicht schon genügend Selbsthass empfand, da ich mir an allem selbst die Schuld gab, vor allem daran, dass er gegangen war. Mom und ich waren nicht genug für ihn gewesen. Ich war nicht genug für ihn gewesen.

Ich gönnte ihm seinen Ruhm nicht. Ich wollte, dass es ihm einmal so erging wie Mom und mir, dass er einmal dieses Gefühl vom Verlassen-sein spürte, sodass er kapierte, wie sehr er uns beide mit seiner Flucht zerstört hatte.

Und Ethan, wieso ging mir dieser Typ nicht aus dem Kopf, reichte es nicht, dass ein Mann ununterbrochen in meinem Kopf herumspukte?

An seinem Vorschlag hatte mich nicht sonderlich viel gestört, sicher, ich war allen Fußballdingen seit Ewigkeiten aus dem Weg gegangen, jedoch hatte ich sein Wettangebot als eine Möglichkeit gesehen, gegen Fußball desensibilisiert zu werden. Es nicht alleine zu tun, linderte die Angst davor.

Dass ich mit seiner Mutter – die ihm im Übrigen übertrieben ähnlich sah – diskutiert hatte, hätte ich bereits als Warnung sehen müssen: Sie hatte mich mit ihrem Verhalten an meinen Vater erinnert, sodass ich in Fahrt gekommen war und meine Wut auf sie assimiliert hatte. Bereits in diesem Moment überstrapazierte sich meine Gefühlswelt.

Dass sie Ethan keine Aufmerksamkeit schenkte, alles andere wichtiger als er war, dass sie nie für ihn da war und ihn nicht kannte, diese Parallelen hatten mich meinen Vater an ihrer Stelle sehen lassen und eins war sicher: Wenn ich meinem Vater gegenüberstand, konnte ich für keine Manieren mehr garantieren.

Oft hatte ich mir Gedanken gemacht, was ich ihm an den Kopf schmeißen würde. Tausend Szenarien hatte ich entwickelt und doch wieder verworfen, da ich mir bewusst geworden war, ich wollte ihn nie wieder sehen, außerdem würde ich ohnehin niemals die Gelegenheit dazu bekommen.

Dann dieses Fußballspiel ... Natürlich hatten meine Tränendrüsen automatisch losgeschossen, als ich meinen Dad erkannt hatte.

So viel Entschuldigung, Mitleid und Fürsorge hatten darauf in Ethans Blick gelegen und dann dieser Spruch ... Er war in diesem Moment alles gewesen, was mir zur Verfügung gestanden hatte, alles was ich brauchte. Mein Trostpflaster und Seelenheiler. So dachte ich nicht lange nach und ergriff meine Ablenkung vor dem vollkommenen Gefühlszusammenbruch: Ich küsste ihn.

Ich musste mich ablenken und die Gefühle entladen. Etwas musste ich doch tun können, um zu verhindern, dass diese Gefühle mich zerrissen ... Die Antwort waren seine Küsse, seine Berührungen und seine bloße Nähe. Meine Gefühlswelt hatte keinen Einfluss auf mein Verhalten gehabt, sie war mit der Wut und Trauer vollends überlastet und durch die Küsse größtenteils stillgelegt. Mein Verstand hatte dieses Verhalten ganz sicher nicht gesteuert, er würde so etwas nie im Leben tun, somit war dieser ebenfalls auszuschließen. Doch wer oder was war es dann gewesen?

Eines war ich mir jedoch bewusst: Diese Küsse waren unglaublich-ultra-galaktisch-mega-hammer gewesen. Nie im Leben hatte sich etwas so richtig und dennoch vollkommen falsch angefühlt. Und genau dieser Gegensatz hatte mich in seinen Bann gezogen.

... Was dachte ich da: Ich durfte nicht toll finden, mit ihm Zeit zu verbringen. Nicht toll finden, ihn anzustarren. Und vor allem nicht toll finden, ihn zu küssen und ihm dermaßen nah zu sein.

Diese Gefühle konnten mich nicht einnehmen. Es war eine Phase, genau. Ich hatte mich nur von dem herumgehenden Ethanvirus „Ethan ist so heiß, Ethan ist so unglaublich, Ethan ist perfekt" anstecken lassen. Würde ich etwas Abstand von ihm gewinnen, lege sich das wieder. Gerade jetzt durfte ich mir keine Ablenkung leisten: Bald standen die letzten Prüfungen bevor und vorher musste ich dieses Wochenende beim Sciencewettbewerb überzeugen. Für keinen Preis der Welt ließ ich mir den Wettbewerb durch den Schwachmaten Nummer eins versauen.

Ein wenig Kurierzeit, dann lege sich die Infektion und ich wäre aus der Quarantäne entlassen.

Lediglich die Facharbeit stand noch zwischen uns, von der wir allerdings den Großteil abgearbeitet hatten, deren Rest ich alleine fertigstellen könnte und die in zwei Wochen Geschichte war und somit unsere einzige Verbindung ebenso.

Ein wenig Abstand, dann sähe ich ihn wieder als den schwanzgesteuerten, selbstzentrierten Primaten, der er war. Ich würde ihn wieder hassen.

Mein Entschluss stand fest: Ich würde Ethan aus dem Weg gehen, sodass sich diese erdachten Gefühle in Luft auflösten ...




Hoffentlich findet ihr es nicht zu langweilig, dass ich so viel über ihren Vater geschrieben habe, allerdings erachte ich es als sehr wichtig, da man damit erst versteht, weshalb sie sich so verhält, und vor allem, warum sie sich dermaßen gegen die Gefühle zu Ethan wehrt.

Frage: Was ist euer Lieblingsessen?

Meins sind Pizza und alles, was meine Mama kocht. :)

Nerd vs. Athlete - Geek vs. Player I : Liebe auf den nicht ganz ersten BlickWo Geschichten leben. Entdecke jetzt