"Wir sind eine Familie", antwortete Elly knapp.

"Das beantwortet meine Frage nicht", erwiderte er.

Elly seufzte und schüttelte den Kopf. "Nicht wirklich, aber das liegt vermutlich daran, dass ich selten das getan habe, was von mir verlangt wurde. Mutter hat mich hart bestraft, wenn ich ungezogen war oder wenn ich die Aufgaben, die mir zugeteilt wurden, nicht zufriedenstellend erledigt habe. Oft hat sie gefragt, womit sie ein Balg wie mich verdient hat, aber im Grunde wusste ich immer, dass sie mich liebt. An manchen Tagen hat sie mir das auch gezeigt."

"Und was ist mit deinem Vater?", wollte Silas wissen, als eines der Schattenwesen herbeigeeilt kam und einen Teller mit rohen Fleischstücken vor ihm abstellte. Das Wesen verschwand so schnell wie es gekommen war und Silas begann zu essen.

"Er war selten freundlich zu uns, hat Mutter immer wieder in ihre Schranken gewiesen und ihr gezeigt, wo ihr Platz ist. Sie hatte nur wenig Freiraum und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sie ohne seine Zustimmung nicht mal Atmen dürfen, genauso wenig wie ich." Elly zwang sich dazu, ein Stück Pastete in den Mund zu schieben und kaute darauf herum. "Trotzdem würde ich nicht behaupten, dass sie Pech hatte, als sie mit ihm verheiratet wurde. Auch wenn keine Liebe im Spiel war, kam er all seinen Pflichten nach und sorgte für ein sicheres Zuhause."

Elly blickte aus dem Fenster in die Ferne und konnte nicht verhindern, dass sich Tränen in ihren Augen bildeten.
"Weißt du, wenn mir Vaters Griff zu eng wurde, habe ich mich manchmal Nachts aus dem Haus geschlichen, um die Schönheit der Natur zu genießen. Ich war oft alleine im Wald, habe mich auf einen Baumstamm gesetzt und durch das Blättermeer zu den Sternen hinauf geblickt. Ich erinnere mich noch genau an meinen Lieblingsplatz. An das leise Plätschern des Flusses in der Nähe, an das Zirpen der Grillen und den Wind, der meine Haut streichelte. Immer wenn ich dort saß, fühlte ich mich frei. Ganz so, als könnte mir niemand diese Freiheit nehmen, nicht einmal mein Vater. Dieser Ort gab mir Kraft für den harten Alltag und spendete mir Trost, wenn ich ihn brauchte."

Elly spürte, wie sie eine leichte Windbrise streifte, obwohl das Fenster geschlossen war. Sie schaute verwundert zu Silas, der sie liebevoll anlächelte. Ihr wurde ganz warm ums Herz und ihr Unterleib kribbelte. Der Wind berührte ihre Wange, streichelte über ihren Hals und kitzelte sie am Nacken. Elly wischte sich eine Träne von ihrer Wange und kicherte. "Hey, lass das", meinte sie und Silas Lächeln wurde breiter.

Einer der Schmetterlinge in ihrem Inneren breitete seine Flügel aus und schwirrte wie verrückt in ihrem Bauch herum.
"Sag mal, kennst du auch so einen Ort?", fragte sie rasch, um sich von ihren Gefühlen abzulenken. "Einen Platz, der dir Besonders gut gefällt und an dem du dich gerne aufhältst?", wollte sie wissen und nahm einen Bissen von ihrem Brot.

"Sicher, ich kenne viele schöne Orte, aber einer von ihnen ist mir Besonders im Gedächtnis geblieben. Er befindet sich sogar ganz in der Nähe", antwortete Silas.

Elly runzelte die Stirn und fragte sich, wie der Ort wohl aussehen mochte, von dem er sprach. Wenn sie aus dem Fenster blickte, konnte sie nichts als eine kahle Landschaft mit spitz zulaufenden Felsen und blattlosen, knorrigen Bäumen erkennen.

"Du fragst dich sicher, wie es in einem Land wie diesem, einen Ort geben kann, an dem es möglich wäre, sich wohlzufühlen. Nun, ich werde ihn dir noch zeigen Elly.
Manchmal versteckt sich die Schönheit vor dem Auge des Betrachters und nur jene, die genauer hinsehen, werden belohnt."

Sie nickte und tunkte ihr Brot in einen Topf mit Suppe, es schmeckte herrlich.

"Gab es jemals einen anderen Mann in deinem Leben?", wechselte Silas das Thema und Neugier schwang in seiner Stimme mit.

Elly war sich unsicher, ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte. Letztendlich entschied sie sich aber dafür. "Damals wurde ich mit unserem Dorfschmied verheiratet und kurze Zeit später bin ich bei ihm eingezogen."

"Du warst verheiratet?", fragte Silas empört und schien alles andere als begeistert zu sein. "Hast du ihn geliebt?", hakte er schnell nach und schnaubte. Seine plötzliche Wut überraschte sie, schließlich war Erik Müller nicht länger Teil ihres Lebens.

"Nein, es war eine Zweckehe. Wenn ich ehrlich bin, konnte ich ihn nie leiden", versuchte Elly ihn zu beruhigen.

"Dann kam ich ja gerade rechtzeitig, um dich von ihm zu befreien", gab er zurück und entspannte sich langsam wieder.

Elly sagte dazu nichts und nahm stattdessen einen Schluck von dem Wein, der weder zu süß noch zu herb schmeckte. Sie schwenkte das Glas und beobachtete die dunkelrote Flüssigkeit, während sie sich fragte, ob es ihren Eltern wohl gut ging. Immerhin hatte sie schon eine ganze Weile nichts mehr von ihnen gehört. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und sie stellte ihr Getränk zurück auf den Tisch. Was gab ihr überhaupt die Sicherheit, dass Harving von Silas Dienern verschont wurde und dass ihre Eltern in Sicherheit waren? Sie könnten genauso gut unter der Erde liegen, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hatte. Elly wurde übel bei dem Gedanken und ihre Hände zitterten. Möglicherweise saß sie hier mit dem Mörder ihrer Eltern an einem Tisch und trank in Ruhe ein Glas Wein mit ihm.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 20, 2021 ⏰

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