Kapitel 119

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Donnerstag, 4. April

Am Montag haben wir Ramazans und Habibs Geburtstag gefeiert. Den ganzen Monat war bei ich bei Can. Das war schön. Es war wunderbar und so harmonisch. Saliha dachte, dass ich auf ewig dort bleibe, was ich aber lachend verneint habe. Noch nicht. Ich habe vollkommen vergessen, ihr, Viyan und Ranja zu erzählen, dass ich Can versprochen wurde. Wie kann ich bloß etwas so Wichtiges vergessen? Aber diesen Monat habe ich mich nur auf die Doktorarbeit konzentriert, da ich langsam das Gefühl habe voranzukommen. Can war nicht beim Neurologen. So sehr ich den Glauben an die Ärzte verloren habe, so sehr will ich wissen, was Can hat. Ich habe meine Dozenten, Professoren und meinen Doktorvater gefragt und auch diese meinten, dass das, was diese dämliche Neurologin meinte gutmöglich stimmen könnte, aber ich glaube nicht daran. Scheiß Ärzte. Die haben bestimmt im Studium geschummelt. Ach, damals war es sowieso nicht so wie jetzt. Da sich die Medizin jedes Mal revolutioniert, wird der Stoff im Studium immer anspruchsvoller. Die Ärzte wissen einen Scheiß! Ich werde schon herausfinden, was Can hat. Aber seit dem Vorfall ist Can ruhig geblieben. Er ist nicht ausgerastet, aber man hat es ihm angesehen, dass er gerne etwas kaputtmachen wollte. Das neue Semester ist gut. Ich mag die Fächer. Can ist nicht mit mir in derselben Pathologiegruppe, was ihn sehr stört, vor allem, da Aykan bei mir ist. Er hat mich darauf hingewiesen, dass ich ihn anrufen soll, falls Aykan mir zu nahekommt. Ich denke, dass Can zu sehr übertreibt. Aber da seine Angst da ein Wörtchen mitzureden hat, widerspreche ich bis jetzt nicht. "Du kannst auch deinen Schlagring und dein Pfefferspray benutzen." Ich verdrehe meine Augen. Beides ist irgendwo in einer Schublade. "Du trägst beides nicht bei dir?", keift er. Wieso weiß er das? Ich schaue verdutzt auf mein Croissant und halte ihm ein Stück des Gebäcks hin. "Shana, ich dachte, du hast beides immer bei dir", presst er hervor. Seine Brust hebt sich schon fast gezwungen. "Can, beruhige dich." "Wie soll ich ruhig bleiben, wenn du dich nicht zur Wehr setzen kannst?" Seufzend fahre ich mir über meine Stirn. "Ich packe sowohl den Schlagring, als auch das Pfefferspray heute ein, okay?" Ich gebe ihm einen kurzen Kuss und stoße sanft meine Stirn gegen seine. Gleich beginnt der Pathologiekurs. Can ist in der ersten Gruppe und ich bin mit Aykan in der zweiten Gruppe. Das gefällt Can gar nicht, aber ändern kann er nicht daran. "Noch drei Minuten", grummelt Can. Ich erhebe mich und gebe ihm die Tüte, als wir gemeinsam durch die Gänge laufen. Ich finde es total unnötig, dass Can jetzt zur Uni gekommen ist. Er hätte eigentlich um 09:15 zur Infektiologie und Immunologie Vorlesung erscheinen müssen. "Wieso bist du eigentlich gekommen?" Can spitzt die Lippen. "Ich konnte nicht schlafen." Skeptisch sehe ich ihn an. "Du lügst." "Gar nicht." "Doch, Can. Du willst mich nicht mit Aykan alleine lassen." Schnaubend sieht er zur Seite. "Wo ist deine Rose?" War ja klar, dass er es nicht einsehen will. Ich zeige auf meine Tasche und verabschiede mich von Can, als er mich zurückzieht und mich stürmisch küsst. Überrumpelt erwidere ich ihn, aber langsam und nicht so hungrig wie Can. Ich spüre, wie geschwollen meine Lippen sind. Verdutzt schaue ich ihn an. Er hingegen tippt mir kurz auf die Nase und läuft den Gang hinunter. Komischer Junge. Ich drehe mich um und sehe Aykan an der Tür stehen, den ich anlächele, was er nur halbherzig erwidert. Okay? Verwirrt laufe ich rein und mache mich Nebenraum fertig. "Du und Can seid also immer noch zusammen?" Ich bestätige es. "Sicher, dass du auch wirklich glücklich bist?" "Aykan, ja", gebe ich mit Druck von mir und schaue ihn etwas finster an. "Wäre ich es nicht, wäre ich nicht mit ihm zusammen." "Shana", seufzt er. "Was?", blaffe ich. Es nervt mich, dass er so sehr an mir und Can zweifelt. "Ich will doch nur nicht, dass du in den Händen eines aggressiven Typen bist." Mein Mund öffnet sich. "Er tut mir nichts, Aykan." Schnaubend laufe ich raus. Ich mache mich sofort an meinen Platz und höre dem Professor zu, der über Hypertrophie redet. "Wir reden hier über eine volumetrische Organvergrößerung, die auf die einzelnen Zellen zurückzuführen ist. Im Gegensatz zur Hyperplasie kommt es zu keiner Zunahme an Zellen, denn die Hypotrophie betrifft das Gewebe, teilungsunfähige Zellen, wie Herzmuskelzellen." Nach der Pathogenese, einem Beispiel und der Morphologie, mikroskopieren wir. Ich mache mir sofort Notizen und schaue auf die Stichwörter, die ich mir davor mitgeschrieben habe. "Man erkennt die Vergrößerung der Herzmuskelzellen und deren Zellkernen", murmele ich und notiere es mir. "Shana, sei mir nicht sauer." Ich verdrehe meine Augen, lasse mich aber nicht aufhalten. Was fällt ihm ein, so über uns zu reden? "Du redest mir ein, dass mein Freund mir nicht guttut. Denkst du wirklich, dass ich dir zustimme?" Er lässt verdutzt seine Lippen zucken. "Nein." Zynisch nicke ich. "Aber Shana. Dieser Typ schüchtert dich ein." Can schüchtert mich manchmal zwar ein, aber ich lasse ihn ebenfalls nicht ungeschoren. "Aykan, lass es einfach gut ein, okay?" Ich könnte jetzt eigentlich ausrasten, aber ich will nicht, dass die ganzen Kommilitonen etwas zu gucken haben.

Ignoranz Where stories live. Discover now