Kapitel 17

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Montag, 11. April

An der Uni angekommen, lasse ich einen zufriedenen Seufzer raus, da es erstens warm ist und zweitens beginnt mein Montag immer um 13:00 Uhr und mit dem Präp-Kurs. Anscheinend haben die meisten Studenten jetzt Pause, da es recht voll auf den Fluren und vor der Uni ist. Viele schauen Can und mich an, weswegen ich sie fragend und zum Teil auch genervt anschaue. Noch nie zwei Menschen gesehen? Ich will mich nicht von den Blicken beirren lassen, doch sie sind wirklich sehr penetrant. "Can, was gucken die alle so?!", will ich wissen. Er zuckt nur mit seinen breiten Schultern. Ich laufe schneller und lasse Can deswegen zurück, der aber aufholt. "Nicht so schnell. Am Ende verirrst du dich noch", gibt er lachend von sich. Ich hingegen verdrehe nur meine Augen und laufe zum Präp-Saal, während ich alle Studenten, die mich anschauen im Kopf beleidige. Langsam nerven diese Blicke zu sehr! "Noch nie einen Menschen gesehen?!", keife ich in eine Richtung, woraufhin Can mich lachend wegzieht. "Lass mich doch meine Wut rauslassen!" Er zieht an meiner Haarsträhne, statt mir zu antworten. Egal, gleich schneidest du einen Menschen auf. Genervt seufzend betrete ich den Saal und mache mich fertig. Aykan ist bis jetzt noch nicht aufgetaucht, bestimmt kommt er gleich. Die Haare habe ich zugebunden, genau wie die Schnürungen des Mundschutzes. Nachdem ich mir auch die Handschuhe übergezogen habe, ziehe ich mir den Kittel an und binde ihn mir am Nacken zu. "Lass mich dir helfen", höre ich Cans raue Stimme, woraufhin er mir meine Finger von meinem Nacken entfernt. "So inkompetent bin ich nicht, Can", mache ich ihn weis. Ich will meine Finger an die Schnürungen am Rücken anlegen, doch auch da entfernt Can meine Finger. "Can-," "Ich weiß: du bist nicht inkompetent. Ich will es trotzdem machen." Ich verdrehe meine Augen, woraufhin Can mir in die Seite zwickt. "Verdrehe deine Augen nicht." Entgeistert schaue ich, da ich mich frage wieso er das weiß. "Fertig." Ich drehe mich nicht um, sondern mache aus Prinzip die Schleife wieder auf, um sie mir selber zu schnüren. "Gott, bist du dickköpfig", kommentiert Can. Ich schaue ihn schnippisch an und sehe, dass Aykan den Saal betritt und mir nur ein halbherziges Lächeln schenkt. Was zum Teufel ist mit allen los?! Na ja, darüber kann ich mir später den Kopf zerbrechen, denn jetzt muss ich mich auf die Testate vorbereiten, auch wenn es mir schwer fällt, da Cans signifikanter Duft den des Formalins überdeckt. Es ist die Duftkombination von mir. Diese Tatsache lässt mich lächeln, was zum Glück von meinem Mundschutz überdeckt wird. Unser Mensch ist schon geöffnet. Heute schauen wir uns das Gehirn an und schneiden die Hirnarealen raus, herrlich. Erst einmal taste ich das Gehirn ab und bin überrascht, wie fest es doch ist. Es ist jetzt kein Stein oder so fest, wie Muskelgewebe, doch auch nicht total glibberig und glitschig, wie es in Serien und Filmen gezeigt wird. Es ist eine interessante Konsistenz. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass es in Formalin lag und dementsprechend präpariert wurde. "Willst du es die ganze Zeit betatschen oder auch einmal rausholen?" Ich schnaube genervt, bei Cans Frage und hole leicht angepisst das Gehirn raus. Dabei stelle ich mir vor, wie es Cans Gehirn ist. Dann hat Can ein echt schweres Gehirn. Na ja, es ist nicht so schwer, dass man umkippt, aber es sind mindestens ein Kilo. Can, Aykan und ich schnippeln etwas an der Hirnrinde herum und versuchen die passenden Hirnabschnitte rauszuschneiden. "Ich habe das Mesencephalon und einen Teil des Telencephalones", murmele ich und schaue mir die beiden gelb-gräulichen Abschnitte genau an. Irgendwie sieht das Telencephalon nicht so gut aus. Es hat eine Art Geschwulst. "Kann es sein, dass der Mann an einem Tumor gestorben ist?", frage ich den Dozenten, der nickt. "Es war ein malignen Tumor, man konnte ihm nicht mehr helfen. Es war schon zu spät", erzählt er, woraufhin ich nicke. Bist ja Dr. Shepherds Nachfolgerin, lobt mich meine innere Stimme, weswegen ich schmunzeln muss, doch dann muss ich an Can denken, weswegen ich nicht weiß, ob ich entspannt seufzen oder genervt aufstöhnen soll. Selbstsicher schneidet er - wenn ich es richtig sehe - das Cerebellum zurecht. Wie kann man beim Schneiden eines Gehirns so gut aussehen? Das ist doch nicht mehr normal! Konzentrier dich! Gesagt, getan. Ich bin hochkonzentriert, da ich mir vorstelle, wie ich Cans Großhirn in einige Scheiben schneide und sie mir genauestens anschaue. Ich glaube, ich habe die Amygdala gefunden - dieser Teil des Gehirns hilft, emotionsgeladene Erinnerungen zu speichern und zuzuordnen. Sie spielt eine Schlüsselrolle bei Gefühlen insbesondere bei der Angst. Dank der Amygdala und dem Hippocampus werde ich wahrscheinlich niemals die Erlebnisse und Gefühle vergessen, die ich mit Can erlebt und bekommen habe. Sollte ich glücklich sein oder es eher dementieren, dass es schön und toll gewesen war?

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