Kapitel 98

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Donnerstag, 12. Oktober

Von meinem Pharmakologie und Toxikologie Seminar verabschiede ich mich und das mit einem leicht drehenden Kopf. Ich hasse den Herbst und den Winter; es wird schnell dunkel, es ist kalt und ich kann irgendwie weniger Schlafen, was wiederum heißt, dass meine Keksernährung wieder losgeht. "Malassimilationssyndrom", murmele ich und gähne. Heute habe ich irgendwie gar keine Lust auf die Uni und außerdem habe ich Bauchschmerzen. Das Gute ist aber, dass mir die Wintersemester immer kürzer vorkommen, als sie Sommersemester. Can habe ich nur flüchtig gesehen. Okay, er saß zwar neben mir, aber wir haben uns nicht angeschaut. Die Rose liefert er mir jetzt immer vor der Matte ab und nicht wie sonst in der Uni. Ein Problem habe ich damit keineswegs, nur ist es doch ein totaler Umweg für ihn oder nicht? Aber warum macht er das jetzt? Vielleicht frage ich ihn, aber nur vielleicht. Jetzt laufe ich erst einmal den anderen zum Hörsaal nach und setze mich hin. Es ist schon so, dass jeder einen festen Platz hat, weswegen ich nicht immer in den Saal als Erste flitzen muss, um meinen Platz zu bewahren. Und bei Can bin ich mir sicher, dass keiner freiwillig seinen Platz wegnehmen will. Wenn man vom Teufel spricht, da kommt er auch mit seinem Kaffee und setzt sich neben mich hin. Ich muss Can nicht einmal ansehen, um zu wissen, dass er immer noch gereizt ist. Das spüre ich einfach. Viel Oxytocin hat er gerade nicht im Körper. "95 Prozent der Patienten im fortgeschrittenen Stadium einer Tumorerkrankung leiden an Schmerzen; von diesen haben 60 Prozent abgrenzbare Durchbruchschmerzen/ Schmerzspitzen." Manchmal frage ich mich, wieso der Professor hier ist. Er liest doch sowieso nur alles ab, außer die Literatur. Ich glaube nicht, dass er sich die Mühe gibt und jedes Jahr ein neues Skript macht. Er kriegt also Geld und liest dabei nur etwas vor. Ich strecke mich kurz, woraufhin ich eine Hand spüre, die meinen Bauch streift und mein Oberteil runterzieht. Verwirrt sehe ich zu Can, welcher schreibt und mit seiner Hand immer noch mein Oberteil festhält. Ich entferne seine Hand und lasse mich nicht davon beirren. Ich glaube, ich gehe heute wieder arbeiten. Obwohl, nein, ich muss ins Labor. Ich glaube, ich sollte kündigen, da ich einfach keine Zeit mehr habe. "Differenzierung zwischen nozizeptiven und neuropathischen Schmerzen", murmele ich und fange an mit meinem Bein zu wippen. Meine Englischlehrerin meinte früher, dass das nur Leute mit ADHS machen. Sie hat des Öfteren die Rolle einer Psychologin oder Ärztin übernommen, aber ich habe sie natürlich ab und zu korrigiert. Cans Hand drückt mein Bein runter, weswegen ich ihn verwirrt ansehe. Töte ich ihn damit?! Ich schiebe seine Hand weg und mache weiter, doch er legt seine Hand wieder auf mein Knie und drückt es runter. Soll ich mich ihm widersetzen oder aufhören? Widersetzen. Das Wippen macht weder Geräusche noch berühre ich ihn, also soll er mich in Ruhe lassen. "Nimm deine Hand weg", gebe ich ruhig von mir und schaue zum Professor. Auf mich hören tut er nicht. An meinem Tun ändert es trotzdem nichts, auch wenn Cans Hand sehr stark ist, kriege ich es immer noch hin, mit meinem Bein zu wippen, auch wenn ich wegen der Last ab und zu eine Pause einlegen muss. Ich verstehe nicht einmal, wieso es ihn so stört. Wenn bislang noch keine Opioide: Start in der Regel mit Morphin (Vorteile: preisgünstig, ALLE denkbaren Applikationswege). Bei Niereninsuffizienz jedoch eher Hydromorphon (oder Buprenorphin); bei Schluckstörungen evtl. Pflaster (TTS = transdermales therapeutisches System); bei neuropathischen Schmerzen an Levomethadon denken (Vorsicht bei der Aufdosierung aufgrund unkalkulierbarer Pharmakodynamik - am besten stationär!, schreibe ich ab und werde mir die ganzen Tipps auf jeden Fall noch einmal durchlesen.

Okay, ich sollte mir meinen Stundenplan wirklich besser durchlesen. Ich dachte, dass ich heute noch meine klinische Propädeutik habe, aber diese kommt erst nächste Woche. Und die Palliativmedizin habe ich nur diese Woche. Spontan habe ich beschlossen, nach Hause zu gehen, um etwas zu essen und dann wieder ins Labor zu gehen. Gerade will ich Salihas Nummer wählen, da packt mich schon jemand von hinten und zieht mich zum Parkplatz. Natürlich ist es Can, wer denn auch sonst? Sein Griff war erst einmal fest, wurde dann aber wieder locker. Anscheinend hat er selber bemerkt, wie fest er zugreift. Vor seinem Auto lässt er mich los und funkelt mich wütend an. Was ist denn jetzt schon wieder? Ich schaue ihn abwartend an und bemerke, dass mein Herzschlag sich beschleunigt hat. "Meinst du nicht, dass du dich zu stur verhältst?" Sofort schnalze ich mit meiner Zunge und verschränke meine Arme vor meiner Brust. "Wenn du mich anmeckern willst, weil ich gerade mit meinem Bein gewippt habe, dann lass es sein, ich will etwas essen." Gerade will ich weiterlaufen, als er mich zurückhält. "Es ist wohl mehr als deutlich, wie stur du dich verhältst, Shana." Abwartend sehe ich ihn an. Dann bin ich halt stur, aber das müsste er seit fünf Jahren wissen. Genervt fährt er sich durch sein Haar und schließt für einen Moment seine Augen. "Shana, du zerstört das Ganze, merkst du das nicht?" Meine Augen verdrehen sich sofort. "Wenn du es nicht angesprochen hättest, wären wir nicht so bockig, also?" Jetzt fängt es schon wieder an. Reicht es nicht, wenn ihm der Fakt bewusst ist, dass ich es nicht will? "Shana, du willst einfach nicht verstehen, dass ich nur eine Bitte an dich habe." Er bemüht sich zu sanft zu klingen. Er möchte nicht streiten, davon hat er genug. Tief seufze ich und schaue an ihm vorbei, wo eine perfid grinsende Aleyna steht und abwartend zu uns schaut. Was will die Schlampe hier und wieso hört sie zu?! Ich kann Can gerade nicht wirklich zuhören, weil das Weib zu sehr grinst. Sie freut sich, weil wir uns streiten. "Shana, hör mir zu", herrscht Can mich an und dreht meinen Kopf zu sich. "Es regt mich schon auf, dass du dich so stur verhältst und dass du mir nicht einmal mehr zuhörst, könnte mich zum ausrasten bringen", kommt es bedrohlich und leise von ihm. Ich würde ihm ja gerne zuhören, aber dass Aleyna da steht und grinst, bringt mich zum kochen. Am liebsten würde ich sie jetzt einfach schlagen und ihr, ihre aufgeklebten Wimpern ausreißen. "Rede", presse ich hervor und würde am liebsten schreien, dass sie nicht gucken soll. Hat sie nichts besseres zutun? Oder diese Weiber, die noch dazu kommen. Ich könnte ausrasten! "Du hörst mir wieder nicht zu." Can spannt seinen Kiefer an und könnte gleich wirklich platzen. Er ist total wütend und seine Wut steigt von Sekunde zu Sekunde. "Was hast du für ein gottverdammte Problem, Shana?!", ruft er nun, sodass Aleyna alles mithört. "Du hast doch ein Problem mit meiner Entscheidung." Ich wollte es eigentlich leise sagen, aber weil ich gerade so in Rage bin, kriege ich es nicht hin. "Du sollst aufhören, es zu verheimlichen!", zischt er. Seine Augen haben sich verdunkelt und die Umrandung seiner Iris ist intensiver. Aleyna ist ganz aus dem Häuschen und die Weiber neben ihr kichern. Gott, es reicht! "Ich verlange nichts, außer die kleine Anerkennung. Ich will nur, dass man weiß, dass ich in deinem Leben existiere, dass ich-," Ich lasse Can gar nicht ausreden und küsse ihn einfach. Sofort höre ich, wie Aleyna erschrocken nach Luft japst, was mich triumphierend lächeln lässt. Der Kuss sorgt dafür, dass Can nicht mehr diskutiert, dass Aleyna geschockt ist und dass meine Sehnsucht nach seinen Lippen auf meinen gestillt ist. Nach so langer Zeit kann ich ihn wieder küssen und genieße es in vollen Zügen.

Ignoranz Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt