30. Schubladen

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Während Reta und Jonas ihr Eis aßen und gespannt auf ein Lebenszeichen von Hanni warteten, verlief ihr Gespräch in eine neue Richtung.

„Erzähl ein bisschen was von dir", bat Reta. Während Reta Jonas bereits einen Teil ihrer dunkelsten Vergangenheit anvertraut hatte, wusste sie von Jonas nicht besonders viel. „Ich weiß praktisch nichts über dich."

„Das liegt daran, dass es nicht viel über mich zu wissen gibt. Deine Haarfärbegeschichte ist vermutlich schon spannender als meine Lebensgeschichte." Er zuckte mit den Schultern und schob sich einen weiteren Löffel Joghurt-Eis in den Mund.

„Sag sowas nicht", antwortete Reta. „Im Grunde bin ich nur ein Mensch, der keine Ahnung hat, was er will. Frag mich nach meinen Hobbies und ich werde dir keine Antwort geben können. Frag mich nach meiner Lieblingsfarbe und ich werde dir keine Antwort geben können."

„Du bist eben unglaublich facettenreich", meinte Jonas.

„So würde ich das nicht nennen. Eher nicht in der Lage, mich zu entscheiden. Was meinst du, warum ich zeitweise acht verschiedene Haarfarben hatte? Weil ich mich absolut nicht festlegen kann."

Jonas zuckte mit den Schultern. „Was ist schon dabei? Du probierst dich eben aus."

„Ich würde mich gerne definieren können. Aber ich kann's nicht. Ich kann nicht einfach sagen ‚Hey, ich bin Reta, die, die...' - ja, was? Es gibt nichts, das mich definiert, weil nichts in meinem Leben lange konstant bleibt."

„Dann kann man dich eben in keine Schublade stecken. Das ist doch nichts Schlechtes."

„Ich würde einfach gerne mal... normal sein. Es kann doch nicht sein, dass ich am einen Tag Malen liebe und es wenig später schon wieder hasse. Ich bin gut darin, aber ich finde es so sinnlos. Darf man überhaupt etwas hassen, indem man gut ist?" Wo Reta einmal mit dem Thema angefangen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören. Diese und so viele andere Fragen kreisten schon lange in ihrem Kopf - gänzlich unbeantwortet. Sie wusste nicht, was sie sich davon erhoffte, sie mit Jonas zu teilen. Vielleicht wünschte sie sich Antworten, aber vielleicht auch nur Verständnis.

Mit letzterem konnte Jonas dienen. „Man sagt immer, wenn man etwas hasst, dann weil man es nicht gut kann. Aber das trifft nicht immer zu. Nicht bei dir und bei vielen anderen auch nicht."

„Aber bei mir trifft es in so vielen Fällen nicht zu."

„Dann ist das eben so. Mach dir keinen Kopf drüber."

„Ich glaube, früher hatte ich mal eine Persönlichkeit. Aber dann kamen all die Umzüge und ich musste so oft von vorne anfangen, wurde so oft mit Neuem konfrontiert, dass ich am Ende gar nicht mehr wusste, wer ich eigentlich bin und was ich will. Manchmal habe ich mich angepasst und manchmal nicht. Ich mag sehr viel. Und manchmal hasse ich Dinge, die ich an anderen Tagen mag."

„Genau das macht dich doch interessant und facettenreich. Du wirst nie langweilig."

„Schon. Aber nicht nur mein Zimmer kann wahnsinnig chaotisch sein, sondern auch mein Kopf. Ich hätte so gerne einen Plan, Jonas. Ich würde gerne klar sehen können, was ich will und was mir Spaß macht."

Während ihres Gesprächs hatte Reta ihr Eis zu Ende gelöffelt und Jonas seins.

„Weißt du was, Reta?", sagte Jonas schließlich, als er den Eisbecher ein Stück von sich wegschob.

„Was?"

„Pläne können nicht immer eingehalten werden und eine klare Sicht ist nur Schein. Es gibt so viele Überraschungen und Zufälle und Unerwartetes. Ich glaube nicht, dass sich das Leben planen lässt, selbst wenn man es versucht. Das Leben ist einfach chaotisch."

Reta dachte etwas über seine Worte nach und schließlich nickte sie. „Ja, vielleicht."    

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