47. Stella

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Das Leben der Stella ~ Was damals geschah

Der Wind pfiff durch ihre Haare, als die Sechstklässlerin die frische Luft in sich aufsaugte.

Ja. Das tat gut.

Noch nie hatte Stella Seidel verstehen können, wie Menschen mehr Zeit als nötig in diesem stickigen Schulgebäude verbringen konnten. Während ihre Freunde ihre Pausen drinnen verbrachten, verbrachte Stella sie draußen.

Auch wenn sie dadurch alleine war. Die Luft und die Bewegung waren es wert.

Und ganz alleine war sie genau genommen nicht, denn sie wurde beobachtet. Sie wurde häufig beobachtet. Vor ein paar Wochen hatte es mitten im Schuljahr angefangen.

Seit ein paar Wochen saß das zierliche Mädchen mit den kurzen blonden Haaren immer auf derselben Bank und beobachtete die anderen Schüler, während sie ihr Pausenbrot aß.

Stella schien sie wohl besonders interessant zu finden. Vielleicht lag es daran, dass das Mädchen alleine war und Stella es auch war. Menschen, die so waren wie man selbst, stachen aus der Masse hervor.

Die beiden hatten schon etliche Blickwechsel hinter sich. Sie führten fast schon Smalltalk  mit Blicken, was Stella ziemlich amüsant fand. Eigentlich war sie ein Fan von Worten und redete gerne und viel. Doch diese Art der Konversation hatte etwas ebenso Reizvolles.

Da war immer dieser Blick, den die beiden sich zuwarfen, wenn sie sich das erste Mal in der Pause erblickten.

Das war der „Hi"-Blick.

Und dann aß das blondhaarige Mädchen ihr Pausenbrot, während Stella sich etwas entfernte und ihre Runden über den Schulhof zog. Schüler versperrten die Sicht auf den jeweils anderen, doch es kam immer der Punkt, an dem kein Schüler mehr im Weg stand. Also trafen sich ihre Blicke erneut.

Das war der „Wie geht's dir?"-Blick.

Von Stella folgte an dieser Stelle ein kurzes Grinsen, die Blondhaarige sah dann immer verlegen weg und fand ihren Brotaufstrich plötzlich sehr, sehr interessant.

Offensichtlich war sie sehr schüchtern.

Und dann lief Stella weiter über den Schulhof, sich wohl darüber bewusst, dass die Pausenbrotessende sie auch weiterhin beobachtete, während Stella die frische Luft genoss.

Und dann klingelte es zur nächsten Stunde. Stella war eine der ersten, die das Schulgebäude betraten, das Mädchen von der Bank ließ lieber allen anderen den Vortritt und blieb noch etwas sitzen. Während Stella an ebenjener Bank vorbeilief, trafen sich ihre Blicke ein letztes Mal.

Das war der „Bis zur nächsten Pause"-Blick.

Dieser Ablauf war inzwischen Gewohnheit geworden. Aber Stella hasste Gewohnheiten, sie brauchte Aufregung, Neues. Und sie war spontan und immer für eine Überraschung gut.

Es hatte einen „Hi"-Blick  heute bereits gegeben. Aber Stella war entschlossen, dieses Mal nicht den „Bis zur nächsten Pause"-Blick auf den „Wie geht's dir?"-Blick folgen zu lassen.

Also näherte sich Stella früher als gewöhnlich der Bank, auf der das fremde Mädchen saß, das gar nicht mehr so fremd war. Früher als gewöhnlich wurde dadurch auch der „Wie geht's dir?"-Blick ausgetauscht. Früher als gewöhnlich grinste Stella und früher als gewöhnlich betrachtete die Blondhaarige ihr dahin schwindendes Pausenbrot.

Und dann durchbrach Stella endgültig das System, indem sie ihre Entfernung zur Bank vernichtete.

Das Mädchen blickte auf, doch blickte direkt wieder auf ihr Brot, als ihr bewusst wurde, dass Stella immer näher kam.

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