Kapitel 35

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Mila's Sicht

"Und dann?" Ich traue mich lediglich zu flüstern. Pegah zuckt die Achseln, den Blick auf ihre spitzen, dürren Knie gerichtet. "Dann war ich hier", antwortet sie trocken. Ich nicke langsam und schlucke schwer. "Leuchtet deswegen dein Bauch? Und dein Rücken?" "Ja." Sie streicht sich eine ihrer dunklen Strähnen aus dem Gesicht, nur, um mich wenig später zu fixieren. "Hier wird alles schreckliche schön." Stimmt. Pegah ist wunderschön. Aber in ihrem echten Leben war sie abgemagert, verwundet, eine Prostituierte, der der Scham und der Schmerz ins Gesicht geschrieben sein mussten. Aber hier strahlt ihre gebrochene, hagere Gestalt unglaubliche Schönheit aus. Nachdenklich ziehe ich die Knie an die Brust. "Erinnerst du dich denn noch an den Schmerz deines Todes?", frage ich leise und wundere mich im nächsten Moment, warum mich so etwas paradoxes interessiert. "Ja", erwidert Pegah. "Der Schmerz ist das deutlichste, an das ich zurückdenken kann." "Oh." "Es waren nur ein paar Minuten, vielleicht nur fünf oder zehn, bis ich tot war, aber die Minuten dauerten ewig. Das Verbluten schien mir ein Prozess zu sein, der niemals aufhören würde." Das klingt sehr... menschlich. Und vor allem verständlich. Pegah wirkt auf einmal in sich gekehrt, sodass ich mich beeile, das Thema zu wechseln. "Wie sieht Gott bei dir aus?" Da lacht sie auf. Erleichtert lehne ich mich zurück. "Er ist ein dicker, kleiner, goldener Mann mit Elefantenkopf." Ich stimme in ihr glockenhelles Lachen mit ein, ehe ich ihr seine Erscheinung bei mir beschreibe. "Bei mir ist er eine Frau. Dunkelhäutig, trägt bunte Gewände, das Gesicht wild bemalt." Pegah kichert immer noch. "Klingt besser als meiner", gluckst sie. "Das kann sein", kichere ich. "Kennst du Gerlinde?", wechselt sie urplötzlich das Thema. Ich überlege, ob ich mit Ja oder Nein antworten soll und noch während ich darüber nachdenke, kommt aus meinem Mund ein plumpes "Jein." Pegah sieht überrascht zu mir auf. "Sie hat mit dir gesprochen?" Ich lege den Kopf schief. "Nein, nein", sage ich schnell. "Geredet haben wir nicht. Sie hat mich ja nicht einmal angesehen. Aber sie ist mir aufgefallen. Wegen ihres Babys. Und nicht zuletzt wegen ihrer honigfarbenen, seidigen Haare. Meine Ur-Oma hat mir gesagt, dass sie sich seit dem Siebzehnten Jahrhundert hier herumtreibt." "Ah, achso." Pegah nickt. "Hätte mich auch gewundert, wenn sie mit dir gesprochen hätte." "Warum?", will ich wissen und runzele die Stirn. "Nun, sagen wir's so, sie lässt selten jemanden an sich heran. Sie ist eher für sich." "Oh", mache ich enttäuscht. Dann werde ich neugierig. "Woher weißt du das alles? Du bist auch erst seit einer Woche hier." Pegah sieht finstere an mir vorbei. Der laue Wind hebt die feinen Locken an den Seiten ihrer Stirn und spielt mit ihnen. Doch ihre Miene ist mit einem Mal hart. Vorsichtig folge ich ihrem Blick. Er führt mich durch tausende weiß gekleidete, lachende Menschen und doch ist er eindeutig. Nicht weit von hier, vielleicht in hundert Metern Entfernung, steht sie. Und sie blickt Pegah direkt in die Augen. Ihr Gesichtsausdruck ist unergründlich, so fein und weich und so süß und schön, dass es einem in die Augen sticht. Aber die Lippen sind aufeinandergepresst; in den Augen blitzt etwas seltsames auf. "Gerlinde", flüstere ich überrascht. Diese Seite an ihr ist mir neu, auch wenn ich sie nur vom Sehen her kenne. Pegah erwacht aus ihrer Starre und zupft an meinem Arm. "Los", sagt sie, während sie sich mit einer geschmeidigen Bewegung aus den Wolken erhebt. "Steh auf." Etwas verdattert folge ich ihrem Befehl und sobald ich auf den Beinen bin, zieht sie mich in die andere Richtung, sodass Gerlinde's starrer Blick sich in meinen Rücken bohrt. Ich will mich zu ihr umdrehen, aber Pegah hält mich davon ab. "Nicht!", herrscht sie mich an. "Nicht umdrehen." "Warum?", frage ich erstaunt. "Gerlinde ist nett!  Jemand, der so lange im Himmel war, kann doch gar nichts Böses im Schilde führen."  Pegah schüttelt den Kopf. "Das ist es nicht! Dreh dich nicht um." "Du kennst sie doch gar nicht", protestiere ich perplex. "Besser als du", antwortet Pegah, während sie noch einen Zahn zulegt. "Hast du mit ihr geredet?", hake ich nach. "Ich musste", gibt sie verbissen zurück. "Warum?" Pegah bleibt so aprubt stehen, dass ich in sie hineinrenne. Dann dreht sie sich langsam zu mir um. "Weil sie meine Patin ist, Mila."

Hannah's Sicht

Das Taschentuch vor den Mund gepresst, betrachte ich mein Spiegelbild. Der schwarze Faltenrock reicht bis kurz unter die Kniekehlen und die dunkelblaue Bluse schmiegt sich an meinen Körper. Meine Hüftknochen stehen hervor; auch meine Wangen sind eingefallen. Aus meinen Augen ist schon längst alles Leben gewichen.

Ich spüre, wie ich zittrig werde und taumele zurück zum Bettrand, lasse mich auf die Matratze sinken. Ich kann das nicht. Kann nicht all diesen Leuten gegenüber treten, die ich für Tage aus meinem Leben verbannt habe. Kann meine Tochter nicht in einem Sarg betrachten. Kann den Ort, an dem sie früher so schön und so gerne gesungen hat, nicht ohne sie betreten. Aber ich muss. Ich würde es mir ja selbst nicht verzeihen, wenn ich die Beerdigung meiner Tochter verpassen würde.

Zaghaft klopft es an der Tür. "Ja", sage ich mit erstickter Stimme. "Mama?", kommt es von draußen. Die Stimme meiner kleinen Magda klingt besorgt. "Komm rein, mein Schatz." Ihretwegen bemühe ich mich um eine freudige Stimme. Sie macht ohnehin schon genug durch. Da kann ich meine Trauer über den Verlust meiner Tochter nicht auch noch auf ihren zierlichen Kinderschultern abladen. Die Tür öffnet sich einen Spalt und sie schiebt sich hindurch. Schon allein ihr niedlicher Anblick sorgt für ein schwaches Lächeln auf meinen aufgeplatzten Lippen. Sie trägt schwarze Lackschühchen, eine weiße Strumpfhose und das schwarze Cortkleid, das meine Mutter ihr für die Beerdigung gekauft hat. Ihr braunes, glattes Haar fällt wie gestriegelt auf ihre Schultern herab; ihre speckigen Händchen umklammern eine dampfende Schüssel. "Du bist zu dünn", sagt sie und ich zucke zusammen. Das Lächeln entschwindet meinem Gesicht. Wie sie es sagt, klingt sie fast erwachsen. Ich will ihr nicht die Kindheit nehmen. Ich will nicht, ich will es einfach nicht. "Es geht mir gut", werfe ich rasch ein und hebe sie auf meinen Schoß. "Nein", sagt sie. "Niemandem geht es gut. Aber weißt du, wem es gut geht?" "Nein", hauche ich und unterdrücke die aufkommenden Tränen. "Mila geht es gut", sagt sie lächelnd. "Ja", sage ich und drücke ihr einen Kuss auf's Haar. "Was hast du denn da?" Sie hält mir die Schüssel entgegen. "Gemüsebrühe. Wir haben noch eine Viertelstunde, bis wir gehen. Sollst du essen." Dankend nehme ich die Schüssel entgegen, obwohl mir flau im Magen wird. Eine Viertelstunde. Fünfzehn Minuten. Das ist nicht viel Zeit, um sich mental darauf vorzubereiten, seine Tochter für immer hinter sich zu lassen.

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Hi. :D Ich weiß, ihr musstet sehr lange warten und natürlich tut es mir auch sehr leid, aber ich bin einfach nicht dazu gekommen. :( Hier erst mal euer neues Kapitel. Habt ihr euch verdient! ♥ Kommis? :-*

Leukämie-mein Leben danachحيث تعيش القصص. اكتشف الآن