Kapitel 27

6K 278 86
                                    

Hannah's Sicht

Ich schnappe schwer nach Luft. Es ist, als hätte jemand einen Kübel Eiswasser über meinen Kopf geschüttet; meine Hände werden weiß und kalt. Mein Kopf ist leer, während sich vor meinen Augen ein so endlos tragisches Szenario abspielt: Auf dem schwarzen Bildschirm neben dem Bett zieht sich ein langer, neonfarbener Strich, während aus irgendeinem Lautsprecher ein durchgehendes Piepen dröhnt. Mila's Brustkorb zuckt kurz auf, fällt dann aber umso lebloser auf die Matratze zurück. "Nein!", schreie ich aus Impuls und stürze ans Bett. Meine Tränen fallen auf ihr Gesicht herab und rinnen daran herunter auf das weiße Laken, wo sie kreisförmige Sprenkel hinterlassen. Ich sacke in die Knie und greife nach ihrer noch warmen Hand, ehe ich sie eingehend betrachte. Sie sieht so friedlich aus, so normal, nicht etwa, als hätte sie gerade erst alle Qualen überstanden. Ihre Lippen, voll und rosa, bilden ein kindliches Lächeln. Ein liebliches Lächeln. Und ihr Gesicht, so voller Liebreiz geschnitten und so ebenmäßig und makellos und schön, sieht aus wie das eines schlafenden Mädchens. Ich glaube nicht daran, ich will es nicht. Meine Tochter ist nicht tot, nein, nein, sie spielt uns einen Streich, spielt mir einen Streich. Das hier ist nur einer meiner verrückten Träume und gleicht kommt der Clown aus der Ecke und ruft "Hab dich!",während er mit der Kamera schwenkt. Wenn ich das nächste Mal blinzele, sitzt sie mir gegenüber, lacht ihr ansteckendes Lachen und singt in den sanftesten Tönen. Lea tritt neben mich ans Bett und beugt sich vorne über. Dann drückt sie Mila einen Kuss auf die Stirn, nicht mehr als ein Lufthauch und nimmt das tote Gesicht in beide Hände. Sie beginnt, unterbrochen von leisem Schluchzen, ein paar Worte zu flüstern. "Leb' wohl, beste Freundin. Ewig dein, ewig mein. Du hast diese Welt in Würde verlassen." Ich sehe kopfschüttelnd zu ihr auf, während Tränen über Tränen in Sturzbächen mein Gesicht hinunterströmen. "Nein, Lea. Sie ist nicht tot. Sie tut nur so. Sie kann gut schauspielern, weißt du", sage ich hastig und drücke Mila's Hand. Lea schüttelt traurig den Kopf. Ihre Augen glänzen. "Manche Dinge will man nicht wahrhaben, Hannah, aber das hier ist Wirklichkeit. Das hier ist der Abschied. Das hier ist ihr Tod." Bei den letzten Worten kippt ihre Stimme und ihre Schultern beginnen sich heftig zu heben und zu senken, während sie sich das Taschentuch vor den Mund gepresst hält.

Ich stehe auf und schüttel dabei ununterbrochen den Kopf, wie diese Wackelkatzen aus Japan. "Nein", hauche ich "sie kann einfach nicht gestorben sein. Das ist nicht das Ende." Doch mit jedem Atemzug mehr wird mir klar, was echt ist und was nicht. Ihr Tod ist echt. Sie lebt nicht mehr. "Was hast du nur getan! Du kannst nicht gehen! Du kannst uns doch nicht einfach zurücklassen!", schreie ich ihr zu, obwohl sie es nicht hört und obwohl es nichts bringt. Schließlich hat sie dieses Leben nur zu unfreiwillig hinter sich lassen wollen.

Eine zarte Hand greift nach meinem zittrigen Arm und zieht mich vom Bett weg. Als ich mich umdrehe, erkenne ich Josephine und realisiere, dass da ja noch andere Menschen im Raum sind, außer mir, Lea und meiner toten Tochter. Ich lehne mich an die kalte, sauber verputzte Wand und rutsche daran herab. Ich weine, laut und lauter. Immer, wenn ich Luft hole, höre ich Markus' Schluchzen. Es ist einer der seltenen Momente, in denen ich ihn emotional reagieren sehe. Er hat noch nie geweint. Doch jetzt steht er am Bett, betrachtet ihren leblosen Körper und beugt die Schultern nach vorne. Für eine Weile überrascht mich seine Reaktion so sehr, dass ich innehalte und ihn anstarre, doch dann werde ich zurück in meine Gefühle gerissen und schluchze weiter. Lea liegt mittlerweile in Magda's Armen, während sie sich krümmt und den Bauch hält, um die Schmerzen zu lindern. Schmerzen, die auch ich spüre. Überall. Mein ganzer Körper ist wie ein vollgesogener Schwamm, der ausgewringt wird und in der Hitze vertrocknet; es ist, als reiße jemand das Herz aus meiner Brust, achtlos und brutal, ohne Achtung auf Verluste. Innerlich blute ich.

Sie hat doch wieder gelebt! Die Ärzte haben sie zurück in ihr Leben geholt und doch ist sie einfach von uns gegangen. Ist ihr denn nicht bewusst, wie weh sie uns damit tut? "Hannah, ist dir bewusst, wieviel Mila vor allem in den letzten Tagen gelitten hat? Irgendwann hält auch der tapferste Mensch den Schmerz nicht mehr aus. Und wenn der Wille erst mal schwindet, dann hält auch kein Krankenhausgerät einen kranken Menschen am Leben. Der Arzt schätzte sie auf 3 Monate, doch es waren beinahe fünf", sagt Josephine leise, als hätte sie die Frage in meinen Augen gelesen. Ich starre sie an, wie hypnotisiert, doch ohne sie wirklich wahrzunehmen. Da ist eine Stimme in meinem Kopf, die unentwegt sagt: 'Sie ist tot.' Ganz aprubt höre ich auf zu weinen und sitze nur da an die Wand gelehnt, klaglos, wehrlos, ausgelaugt ubd starre vor mich hin. Ich lasse es zu, dass mein Herz ausgerissen wird und im Stillen nehme ich Abschied von meiner geliebten Tochter. Ich bemerke kaum, wie Markus mir aufhilft und mich in eine Umarmung zieht. Alles, was ich wahrnehme ist Mila's toter Körper zwischen den weißen Laken und Magda's hüpfende Stimme, die uns zu beruhigen versucht. "Sie hat gesagt, sie ist in unseren Herzen und wenn wir an sie denken, ist sie direkt in uns! Warum weint ihr denn? Sie ist doch nicht weg." Vielleicht ist sie die einzig vernünftige. Aber vielleicht versteht sie noch nicht, was Sterben bedeutet. Vollkommen geistesabwesend streiche ich über ihren Kopf. "Ja, mein Schatz", murmele ich und dann bahnt sich doch noch eine Träne den Weg aus meinen Augen.

Dann, plötzlich, wird die Tür aufgerissen und zwei Krankenschwestern stürmen hinein und verbreiten eine unausstehliche Hektik. Sie ziehen Mila das Laken über den Kopf und drücken uns grob aus dem Raum. "Lassen Sie mich los!", kreische ich und winde mich unter den Griffen der Schwester. "Es tut mir Leid, dass das so geendet hat, aber ich bitte Sie nun zu gehen", sagt sie mit ruhiger Stimme und führt mich weiter zur Tür. Unterdessen zieht die andere Krankenschwester sämtliche Kabel und Schläuche aus Mila's Nase und Armen. Ich schlage hysterisch um mich. "Sie sollen mich loslassen, habe ich gesagt!", brülle ich, sinke jedoch im nächsten Moment auf den Boden herab und fange erneut an, heftig zu weinen. Die Schwester sieht mich etwas hilflos an und hebt die Arme. "Es tut mir wirklich Leid für Sie, ehrlich, aber wir müssen den Körper ihrer Tochter nun leider infizieren. Wir machen auch nur umseren Job. Sie sehen sie ja wieder, aber jetzt müssen Sie den Raum verlassen, auch wenn ich ihre Trauer verstehe." Ich bin überhaupt nicht imstande, irgendwas zu entgegnen, denn ich bin einfach nur noch traurig. Ich lasse es zu, dass Josephine mir hochhilft und mich sachte aus dem Raum führt.

Hinter uns wird die Tür mit Nachdruck geschlossen. Lea wirft sich laut schlichzend dagegen und ruft etwas unverständlich scheinendes. Es dauert eine Weile, bis ich ihre Worte entziffern kann: "Komm zurück!" Markus wischt mit dem Handrücken über seine Augen und zieht Lea von der Tür weg. Er selber drückt kurz seine Handflächen an das weiße, sterile Holz und schließt die Augen. Dann dreht er sich um und steuert auf die Treppen zu; wir alle folgen ihm. Magda hat ihre patschige Hand in meine geschoben und wirkt zwar geknickt, aber auch mitleidig. Arme alte Leute, scheint sie zu denken. Für Magda gibt es keinen Unterschied zwischen alt und älter. Lea zum Beispiel wird genauso als alt abgestempelt wie Markus und ich. Arme alte Leute. Haben nicht begriffen, dass Mila noch da ist. Veranstalten solch einen Terz. Seufzend senke ich den Blick und versuche, Kontrolle über meine Weinattacken zu bekommen.

Markus führt uns sicher zum Ausgang und als er die große Schwingtür öffnet, schlägt mir die eisige Luft entgegen und umhüllt mich vollkommen. Unter ihr scheinen meine Tränen zu gefrieren und ich laufe einfach nur stumm über den verschneiten Parkplatz.

Lea's Stimme dringt zu mir durch, als sie mit zittriger, weinerlicher Stimme in ihr Handy stammelt. "Mama, Mila ist gerade gestorben."

Ja, sie ist gestorben. Mein Mädchen. Meine Mila. Meine Tochter. Tot. Tot. Tot, verdammt, tot!

*********************
Ich habe das ganze jetzt mal aus Hannah's Sicht geschildert und hoffe, dass es euch gefällt. War ein wenig enttäuscht von den einsamen 2 Kommis beim letzten Kapitel. Ich muss zugeben, ich hatte mehr Feedback erwartet, wenn gerade die Hauptperson stirbt... :/ Aber nun gut, ihr bekommt hier schließlich eine weitere Chance, mir eure Meinung zu sagen! :-*

Leukämie-mein Leben danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt