Er und Sie

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Vom Meer, dem Leid und einer Wahrheit

Er brauste durch die verlassener Straßen irgendeiner Stadt, irgendeiner Gegend, in irgendeinem Land. Seid Tagen tat er nichts anderes als der Spur zu folgen. Der Spur aus Sehnsucht.

Er musste im Norden gelandet sein; heftiger Regen klatschte gegen die Frontscheibe. Der Himmel war eine einzige undurchdringliche Masse aus grau. Er glaubte in der Ferne den Ozean zu hören. Das war gut. Dann war es nicht mehr weit. Donner grollte, Blitze zuckten. Egal welche Götter, sie alle schienen sich gegen ihn und sein Vorhaben zu lehnen. Er war eigentlich todmüde und erschöpft, doch sein eiserner Wille und die Sehnsucht ließen ihn irgendwie wach bleiben. Er hielt das Lenkrad seines VW-Busses so fest umklammert, dass ihm das Weiße an den Handknöcheln hervortrat.

Ein Blick in den Rückspiegel. Ein Junge Anfang zwanzig mit einem animalischen Blick in den dunklen Augen, einem wüsten Gemisch aus Drei-Tages- und und Vollbart, sowie einem vor Anstrengung gefletschten Mund schaute zurück.

Er zuckte zusammen und zwang seinen Blick auf die Straße. Er hatte die Hauptstraße mit den würfelförmigen Häusern – wahre Ausgeburten der Einsamkeit – verlassen und fuhr nun über einen kurvenreichen Küstenweg. Sein Wahn hinderte ihn daran, das Tempo des Autos zu minimieren, aber eigentlich zitterte er vor Angst. Der Weg war kaum breiter als sein geräumiger Bus und selbst die Absperrung würde notfalls nicht das Schlimmste verhindern. Vor seinem inneren Auge liefen bereits Bilder wie in einem Daumenkino ab: Ein sich überschlagendes Fahrzeug zerschellte an den Klippen und versank in den kalten Massen der schwarzen, erbarmungslosen See.

Erneut rief er sich selbst zur Ordnung. Auch wenn er sein Zähneklappern dadurch nicht beenden konnte. Vor einigen Tagen hatte er seine Jacke verloren. Das war auch das letzte Mal gewesen, an dem er etwas gegessen hatte. Waren schon drei oder erst zwei Tage seitdem vergangen? Er musste sich eingestehen, dass er es vergessen hatte.

Aber es war auch nicht wichtig. Es zählte nur, dass er dranblieb; sein Ziel nicht aus den Augen verlor. Auch wenn er sich mehr wie ein Opfer als der Jäger fühlte. Ein Opfer der Liebe.

Der Pfad schwang nach links. Von der plötzlichen Kurve nach einer halbwegs geraden Passage überrascht, riss er das Lenkrad herum. Der Wagen knatterte, befolgte aber bereitwillig den Befehl. Dann führte der Weg plötzlich steil nach oben und im nächsten Moment erstreckte sich vor ihm eine grüne Ebene mit Hecken, Büschen und sogar ein paar Bäumen. Wer es nicht wusste, konnte niemals ahnen, dass hinter einem starken Gefälle das brausende Meer auf ihn lauerte. Er allerdings konnte das Meer spüren, deshalb achtete er auf nichts von alledem.

Denn direkt vor ihm stand sie. In der Dunkelheit schien ihre elfenbeinfarbene Haut zu leuchten. Ihre Haare wirbelten wirr, aber in der Perfektion des Chaos um ihr Gesicht. Schwarz wie von Salzwasser triefende Felsen. Ihre Augen leuchteten in einem chemischen türkis. Unwirklich, aber wunderschön.

All seine Sehnsucht klatschte eisig auf ihn ein. Sie war nur wenige Schritte von ihm entfernt; wie der Ozean. Und er liebte den Ozean.

»Du hättest nicht herkommen sollen«, sagte sie und er hätte schreien können, dass er nach all dieser Zeit wieder ihre Stimme hörte. »Ich meine es ernst, Phill. Ich habe oft genug mit dir geredet. Ich ... kann nicht bleiben. Es funktioniert einfach nicht.«

»Aber ich liebe dich doch.« Seine Stimme klang kratzig; immerhin hatte er sie seit Tagen nicht mehr benutzt.

Sie lachte. Ein trauriges, verzweifeltes Lachen. »Du wirst nicht glauben, wie oft ich das in den letzten tausend Jahren schon gehört habe. Nein, wirklich. Du musst gehen. Je länger du bei mir bleibst, desto mehr wirst du leiden. Du wirst wahnsinnig werden und ... irgendwann sterben.«

keyholesWhere stories live. Discover now