Schattentüren

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Ich liege auf meinem Bett, während mich tausend Messer zerstechen. Die Schmerzen kommen nicht von außen, sondern von innen. Denn die Klingen bilden sich in meinem Herzen, durchlöchern dieses Organ wie eine sterilisierte Nadel Fleisch, bis sie wie ein Prickeln von Gift auf meiner Haut kondensieren. Doch ich kann so viel wischen wie ich will; das Gift klebt an mir. 

Ich betrachte die Leuchtsterne an meiner Zimmerdecke. Als ich sie vor Jahren dort aufgehängt habe, fand ich sie wunderschön. Doch jetzt kenne ich die milliarden und abermillarden wirklichen Himmelskörper recht gut. In diesen „Sternen" hier sehe ich jetzt nur noch Türen. 

Man stelle sich das Leben ungefähr so vor: Zwischen allen Menschen, Taten und allen Dingen dieser Welt liegen dicke Mauern. Sie sind luftundurchlässige, dicke Steinwälle, durch die nie jemand hindurchkommen kann. Jedenfalls nicht ohne die zahllosen Türen dazwischen zu benutzen. Das ist für manche Menschen unglaublich einfach, weil sie einen Generalschlüssel oder zumindest sehr viele Öffner besitzen. Aber für mich sind alle Tore verschlossen, auch wenn ich mir von jemand anderem die Schlüssel klaue. Über die Jahre scheinen die Wände um mich herum immer dicker geworden zu sein. Ich kann langsam nicht mehr arbeiten, zwischen all dem grauen Stein. Die Sterne über mir sind keine von diesen wirklichen Wegen. Sie symbolisieren das nur; jede Zacke steht für eine Sache, die ich nie erreichen werde. 

Mit dem Quietschen einer gequälten alten Frau öffnet sich die Tür und meine Schwester Tara betritt den Raum. Als wollten sie ihren melodramatischen Auftritt unterstreichen, geben die entfernten Kirchenglocken einen tiefen Gong von sich. Drei Uhr nachts. Taras blonde Haare schimmern golden und ihre viel zu grell-bunte Schminke leuchtet geheimnisvoll im Licht des Mondes, das durch ein Fenster hereinfällt. Ihr schwarzes Kleid scheint aus Licht und Dunkelheit gleichzeitig zu bestehen und raschelt herausfordernd. 

Meine Schwester ist eine Zauberfee. Sie braucht erst gar keinen Schlüssel; die Türen öffnen sich schon aus reinem Respekt vor ihr. Die Messer drücken noch heftiger aus meinem Herzen heraus, auch wenn sich mein Geist bei ihrem Anblick ein wenig beruhigt. Diese Wirkung hat Tara schon immer auf mich gehabt. Sie ist wie ein hoher Turm, auf den ich mit Stacheldraht gekettet bin. Die Stacheln drücken in meine Haut und lassen mich stetig Höllenqualen leiden, aber meine Fesseln verhindern, dass ich abstürze.

Seufzend lässt meine Schwester sich auf ihr Bett sinken. Es ist diese Art von Seufzen, das man nach extasischen Glücksmomenten von sich gibt. 

Ich setze mich im Bett auf. „Ein guter letzter Abend?"

Wie ein schneller Wasserstrom fließt Tara das Lächeln aus dem Gesicht. Ihre Augen sehen aus wie aus Diamant. „Der beste, den ich haben konnte."

Sie muss nichts sagen. Ich weiß, dass sie trotzdem mitmacht. Türen sind eben nicht alles im Leben und meine Schwester gleicht einem Stück Katzengold: nach außen hin und für Unwissende wirkt es edel und begehrenswert, doch eigentlich hat es keinen Wert. Meine Schwester ist eigentlich genauso wie ich, wenn auch auf ganz andere Weise. 

„Komm", sage ich und ziehe die Spritze aus meinem Rucksack, der neben meinem Bett liegt. An sie zukommen war nicht leicht. Ich musste eine Woche ein Praktikum bei meiner Mutter im Hospital machen. Ich verstehe nicht, wie man an einem solchen Ort freiwillig arbeiten kann. Die Trauer und das Deprimieren sammeln sich als Schimmel an der Decke und laufen die Wände herunter. Und wenn man den Leuten in die Augen sieht, kann man schon Tod und Wahnsinn darin schillern sehen. Keine Ahnung, warum sie dort überhaupt noch Medikamente aufbewahren. Es scheint sowieso schon alles vorbei zu sein für die Patienten. Aber vielleicht sollten wir es als ein Zeichen betrachten; eine Bestätigung. 

Tara setzt sich neben mich, greift auch in meine Tasche und zieht die Ampulle mit dem Gift heraus, reicht sie mir. In meinen Händen scheint sie zu vibrieren und ich habe das Gefühl, dass ihre Kälte sich von meinen Fingerspitzen aus in meinem ganzen Körper ausbreitet. 

Ganz langsam, jede Bewegung genießend, fülle ich das starke Medikament in die Spritze. Dann reiche ich sie meiner Schwester. Ihre Augen haben das Diamantendasein aufgegeben. Stattdessen wirkt ihre grau Färbung nun stumpf wie ein Pflasterstein. 

„Du zuerst", sage ich.Sie lässt die Nadel in ihre Haut gleiten, wobei sich ihr Gesicht verzerrt. Kein gutes Zeichen. „Prince ..." 

Mein Name. Ein schlechtes Zeichen. „Prince, bist du dir sicher?" Ihre Schminke ist verwischt, auf merkwürdige Weise sieht sie schön und hässlich zugleich aus. 

„Absolut", antworte ich.

Sie zögert immer noch. Wenn ich mich nicht beeile, wird das Zeug in ihrem Blut aufhören zu wirken. 

„Tu es", verlange ich fast befehlend. Immer noch steckt die Spritze unbenutzt in ihrem Fleisch. „Tu – es!"  Es fällt mir schwer, meine Stimme leise zu halten. Sie hat die Kraft eines Bullen, aber das zeigt sich immer in den falschen Momenten.

Als sie immer noch keine Anstalten macht, sich das Leben zu nehmen, verliere ich die Beherrschung. Ich reiße sie meiner Schwester aus der Hand und drücke selbst zu. Das tut gut. Sie ist wirklich zugedröhnt. Einen Moment lang blickt sie mich überrascht und geschockt an. Dann, als Drogen und Medizin in ihren Adern aufeinandertreffen, fällt sie mit der Schönheit eines Schmetterlings, dem die Flügel gebrochen wurden, auf ihr Bett zurück. 

Spitzfingrich greife ich die Spritze. Dunkel hallt in meinem Kopf Taras Stimme nach. Du kommst mit, oder? Ich möchte auf gar keinen Fall allein da oben sein. 

Ja, ich habe es ihr versprochen. Ich reiße das Instrument aus ihrem Arm und zerschlage es mit der Ampulle an der Wand. Das Klirren klingt viel zu laut in meinen Ohren. Wie das Schreien eines sterbenden Kindes. Ich schaue in die abwesenden Augen meiner Schwester, während das Medikament dunkel an der Wand herunterläuft. 

Vor meinem inneren Auge schlägt eine Tür zu. Die Messerstiche wachsen ins Unermessliche, Gift läuft über meine Haut wie Schweiß.

Ich habe gerade meine Schwester umgebracht.


Du, der das hier gerade liest,

mir tut nicht leid, was ich getan habe. Auch wenn ich jetzt abstürzen muss, ich habe mich von meinen Fesseln befreit. Wusstest du nicht die ganze Zeit, dass es das war, was ich tun wollte? Ich habe hinter diesen vergitterten Fenstern viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Auch nach all den Jahren bin ich noch immer derselben Meinung. Jeder hätte wie ich gehandelt. Ich war gefesselt von Schatten. Jetzt kann ich endlich dahinter das Licht sehen, auch wenn mir der Anblick nicht gefällt. Es gibt keine Türen mehr. Endlich.

keyholesWhere stories live. Discover now