Der Zeiger auf dem Ziffernblatt

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Kriechend langsam bewegte sich der Zeiger auf dem Ziffernblatt fort. Die Physikstunde wollte einfach nicht vergehen, egal wie oft ich meinen Blick zur Uhr wandern ließ. Ich unterdrückte ein Gähnen und stützte meinen Kopf auf meinem Ellenbogen auf. Meinen Freundinnen in der Reihe vor mir schien es ähnlich zu gehen, selbst die strebsame Ella hat das Mitschreiben eingestellt und schaute mit trüben Augen aus dem Fenster, während Jasmin geschäftig an ihren Fingernägeln kaute. Lilli spielte irgendein buntes Spiel unter dem Tisch mit ihrem Handy, neben ihr steckten Carla und Marie giggelnd die Köpfe zusammen. Wenigstens hatten sie einander. Verstimmt schaute ich nach links, auf den leeren Platz neben mir, wo normalerweise Lena saß. Heute hatte es meine beste Freundin wohl jedoch nicht für nötig gehalten, zum Unterricht zu erscheinen. Wer wollte es ihr verübeln? Es war Montag, in der ersten Stunde, und wir hatten Physik. Wenn meine Eltern so locker wären wie Lenas, würde ich vermutlich auch schwänzen. Mit einem Seufzen sah ich auf mein Blatt hinunter, auf dem ich halbherzig das wirre Tafelbild unserer inkompetenten Lehrerin übernommen hatte, aber die Formeln wollten einfach keinen Sinn ergeben. Etwas sauer war ich schon auf Lena, dass sie mich so einfach hier alleine ließ in Physik. Ohne sie, musste ich feststellen, war die Stunde noch öder und langweiliger als gewöhnlich. Es machte keinen Unterschied, ob ich nun der monotonen Stimme da vorne lauschte oder eben nicht, da ich so oder so nichts verstand. Nur noch dieses Jahr, sagte ich mir und kniff die Augen zusammen, nur noch dieses Jahr, dann kann ich den Müll endlich abwählen. Bereits in der siebten Klasse haben Lena und ich uns geschworen, gemeinsam Physik abzuwählen, wenn wir in die elfte kamen. Meiner Meinung nach konnte dieses Schuljahr nicht schnell genug vergehen. Ein weiterer Blick zur Uhr, das Entsetzen folgte sogleich. Es war doch nicht möglich, dass seit meinem letzten Blick erst fünf Minuten vergangen waren! Die Stunde zog sich wirklich schrecklich lang, es kam mir vor wie eine halbe Ewigkeit, in der das Licht am anderen Ende des Tunnels nur spärlich zu sehen war. Der Zeiger schien zwischendurch stillzustehen, doch als er schließlich zehn Minuten vor Schluss des ersten Blocks anzeigte und sich die Klasse so langsam angesichts der bevorstehenden Pause zu regen begann, durchkreuzte etwas Unvorhersehbares unsere Pausenpläne. Ach, wenn es doch nur die Pausenpläne gewesen wären! Unser ganzes Leben wurde durchkreuzt, als die Tür des Physikraums aufging und unser Rektor erschien. Er war aschfahl im Gesicht und auf seiner Glatze, die nur an den Seiten noch wenige graue Härchen besaß, perlten sich die Schweißtropfen. Ein weiterer Mann und eine weitere Frau, die wir beide noch nie zuvor in unserem Leben gesehen hatten, traten hinter ihm ein und schlossen mit ernsten Mienen die Tür hinter sich. Unsere Lehrerin - wenn man es denn so nennen wollte - war ganz überrumpelt aufgrund der Unterbrechung. Auch ihre Pläne wurden an diesem Montagmorgen durchkreuzt . . . Doch bevor sie auch nur ein Wort mit ihrer einschläfernden Stimme sagen konnte, trat der Schuldirektor vor unsere Klasse, sichtlich um Fassung bemüht. Es dauerte ein paar Sekunden, in denen jeder den Atem anzuhalten schien, bis er tatsächlich zu sprechen anfing: „Ich habe eine schreckliche Nachricht für sie, die sie sicherlich alle erschüttern wird. Bitte verzeihen Sie . . . Es ist Ihr Recht, davon zu erfahren, und es ist meine Pflicht, es Ihnen zu sagen. Ich bedauere es sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ihre Mitschülerin Lena Gretschmann heute Morgen Selbstmord begangen hat. Wir wissen alle nicht, wie das passieren konnte, wir Lehrer und Schüler sind gleichermaßen erschüttert."
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Was von mir erwartet wurde. Ich sah mich um. Fassungslose Trauer in den Gesichtern meiner Mitschüler. Ella hatte den Kopf in den Händen verborgen, Jasmin war ganz bleich, Lilli liefen die Tränen in Strömen die Wangen herunter, Carla und Marie giggelten nun nicht mehr. Und ich? Ich konnte mich nicht bewegen. Es nicht begreifen. Die Worte schwebten vor mir, ganz klar hoben sie sich von allem anderen ab: Lena. Selbstmord. Doch sie ergaben keinen Sinn, wurden nicht real. „Ich versichere Ihnen, dass wir alles in unserer Macht stehende tun werden, um Sie alle in dieser Ausnahmesituation zu unterstützen, dafür haben wir ein Team aus professionellen psychologischen Betreuern für Sie bereit gestellt. Der Unterricht fällt für die nächsten Tage aus, wir bitten Sie jedoch inständig, die Möglichkeit einer Betreuung und Gesprächsrunden wahrzunehmen. Bitte vergessen Sie nicht: Sie sind nicht alleine."
Nun wurde die Trauer laut, machte sich breit, kroch jedem ins jedes Glied, umfasste unsere Herzen und schüttelte sie ganz kräftig. Freunde fielen einander in die Arme, schluchzten, trösteten einander, weinten laut, weinten leise. Jemand legte mir eine bebende Hand auf die Schulter, doch ich schüttelte sie ab. Die spinnten doch alle. Lena war nicht tot. Sie war launisch, ja. Mal lustig, mal unmotiviert. Mal nachdenklich, mal unbeschwert. Manchmal war sie traurig, wie jeder, aber nicht depressiv-traurig. Nicht selbstmord-traurig. Einfach . . . traurig-traurig. Ganz normal. Aber sie war immer Lena, meine Lena! Ich realisierte kaum, wie ich mit meinen anderen Freundinnen aus dem Raum geführt wurde, in den Physikvorbereitungsraum. Die Tasche unserer Lehrerin stand dort, genauso eintönig und langweilig wie sie. Aus Krokodilleder. Lena und ich hassten sie beide. Wir nahmen Platz. Die Frau fing anzureden. Forderte uns auf, unsere Gedanken auszusprechen. Die anderen taten es. Ganz bekümmert, erschüttert, fassungslos weinten und sprachen sie. Ich blieb still, bekam davon nichts mit. Der Zeiger auf dem Ziffernblatt raste. Raste, als gäbe es kein Morgen. Nun, für Lena gab es das ja auch nicht.
Um Zehn. Zehn nach Zehn. Zwanzig nach Zehn. Dreißig nach zehn. Vierzig nach zehn.
Die Zeit verging, ohne dass ich ein Wort sagte. Mehrmals wurde ich aufgefordert, animiert, beruhigt, aber ich blieb still. Lena. War. Nicht. Tot. Ich hatte das Gefühl, dass es erst dann wahr werden würde, wenn ich bei dem ganzen Scheiß mitmachte. Solange ich Lenas angeblichen Selbstmord nicht einfach hinnahm, würde es nicht wahr werden. Solange ich nicht mit heulte, war alles gut. Lena war nicht tot! Wollten die das nicht verstehen?
Und die Zeit . . . die Zeit war rasch um. Ehe ich mich versah - oder geschweige denn gesprochen hatte - war es nachmittags. Früher Nachmittag. Später Nachmittag. Der Zeiger auf dem Ziffernblatt bewegte sich viel zu schnell, doch das war mir egal. Schüler wurden abgeholt, von ihren Eltern in den Arm genommen. Als alle sich erhoben, um aus dem Raum auf den Flur zu gehen, tat ich dasselbe. Immer mitziehen, aber nichts sagen. Einige Leute klopften mir auf die Schulter, mit mitleidigen, bedauernden Blicken. Ich sah, wie die Psychologin mit ernstem Blick mit meiner blassen Mutter sprach, hörte aber nicht, was sie sagte.
Ich wandte mich ab. Ab von all den trauernden Schülern und bestürzten Eltern und weinenden Lehrern, hin zu dem Traueraltar, den man gleich neben dem Eingang aufgebaut hatte. Das Bild von Lena war eins vom letzten Sommer. Die Erinnerung durchzuckte mich wie ein elektrischer Stromschlag. Es war am See gewesen, wir hatten gebadet und abends ein Lagerfeuer gemacht. Sie sah so glücklich aus. Warum? Warum hatte sie nicht mit mir geredet? Warum hat sie so getan, als sei sie glücklich gewesen? Warum war sie einfach gegangen? Ohne ein Wort, ohne ein Zeichen, ohne einen Abschiedsbrief? Warum ließ sie uns alle so alleine? Warum ließ sie mich so alleine? Warum war mir nicht aufgefallen, dass es ihr schlecht ging? Hätte ich nicht etwas bemerken müssen? War ich etwa Schuld?
Ich sah noch einmal auf Lenas strahlendes, so schmerzlich vertrautes Gesicht. Ich konnte nicht glauben, dass sie nicht mehr da war. Die vielen bunten Blumen und brennenden Kerzen schienen auf einmal vor meinen Augen zu verschwimmen. Ich wusste nicht, was es war, aber plötzlich spürte ich es: Lena war nicht mehr da.
Und die Trauer brach über mich hinein wie ein kleiner Tsunami, rang mich zu Boden und ließ alles um mich herum verschwimmen.
Der Zeiger auf dem Ziffernblatt stand still.

Ich nominiere lilyxjamesforever, das Wort ist "Schlüsselloch" und Schwierigkeitsgerad 2.

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Ich nochmal :) tut mir leid dass so lange nichts mehr kam, aber ich bitte euch ein wenig Verständnis dafür zu haben dass nicht jeder Autor rund um die Uhr zur Verfügung steht. Es gibt auch für uns tatsächlich noch sowas wie ein Leben außerhalb von Wattpad, und es gibt Zeiten, da nimmt es einen ganz schön ein.
Deshalb: Seid geduldig, wenn mal lange Zeit nichts kommt, wir sind alle nur Menschen und nicht perfekt, aber da draußen warten noch so viele tolle Geschichten auf dieses Buch und somit auch auf euch, so wie diese hier. Habt Geduld und ihr werdet nicht enttäuscht werden.

Euer Lalilinchen <3

P.S.: An alle treuen Anhänger dieses Buches, die Gefahr laufen, noch einmal nominiert zu werden: Mittlerweile gibt es eine E-Mailadresse, savethewords@web.de. Sie ist auch im Regelkapitel zu finden - aber wer guckt da schon nochmal rein, wenn er die Regeln doch schon zur genüge kennt?? ;)

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