Stufe 2; Feuerball

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Ich wusste, dass es eine blöde Idee gewesen war, noch bevor wir das Einkaufszentrum betreten hatten. Aber ich hatte dabei eigentlich an die Vielzahl der Menschen gedacht. Von etwas Schlimmerem war ich nicht ausgegangen.
Es herrschte reges Treiben. Vor den Geschäften, in den Geschäften. Überall Menschen. Ich hasste es.
„Hier!" Meine Begleitung hielt mich am Armzipfel zurück. „Hier gibt es das Oberteil, das ich brauche." War sie sich sicher, dass brauchen in diesem Zusammenhang das richtige Wort war?
Mit schnellen Schritten betrat sie den Laden, bog rechts ab und streifte zwischen den Kleiderständern hindurch. Sie schob die Bügel von rechts nach links und holte ab und zu einen heraus. Eingehend betrachtete sie die Fetzen. Ich ließ ungeduldig den Blick umherschweifen.
Partymusik dröhnte unterdessen aus den Boxen. Ich hätte mir am liebsten die Augen und Ohren zugehalten. Furchtbare Klamotten, furchtbare Musik.
Glücklicherweise hatte Chloe sich schnell entschieden. Sie tippte mir kurz auf die Schulter und deutete mit dem Kopf in Richtung Umkleidekabine. Ich verzog den Mund, nickte knapp und folgte ihr.
Ich kämpfte mich durch das Kleidungswirrwarr, immer darauf bedacht, Chloe nicht aus den Augen zu verlieren und so wenig wie möglich zu berühren. Aber irgendetwas war komisch. Anders, ungewohnt, beängstigend.
Um mich herum schien die Luft zu flimmern. Als wäre ich in ein Schwimmbecken gesprungen und sähe nun alles durch einen Schleier aus Wasser. Augenblicklich wurde mir schwindelig. Ich blieb abrupt stehen und stützte mich an einem runden Kleidungsständer ab.Um Ruhe zu bewahren, atmete ich ein paar Mal tief durch. Außerdem wollte ich verhindern, von neugierigen Gaffern angesprochen zu werden.
Wie im Traum nahm ich wahr, dass Chloe sich mir nährte. Ihre Lippen bewegten sich. Sie redete auf mich ein. Es klang jedoch als hätte ich Watte in den Ohren. Erst nach und nach verstand ich das Wort Angriff, das sie ständig wiederholte.
Im nächsten Moment wurde ich grob zu Boden gerissen und die Welt um mich herum klärte sich. Ich starrte in die Augen einer Freundin von Chloe, deren Namen ich dauernd vergaß. Im Grunde war es mir auch egal. Ich wusste bloß, dass zu ihr ein Bruder gehörte, der nie von ihrer Seite wich. Deshalb blickte ich mich automatisch um. Aber mein Blickfeld bestand nur aus Klamotten.
„Bleib unten und rühre dich nicht von Fleck. Wenn es vorbei ist, komme ich zurück", wies sie mich an. Was soll vorbei sein?
Das Mädchen verschwand mit einem letzten Blick auf mich zwischen den Ständern. Natürlich hielt ich mich keine zwei Sekunden an ihre Anweisung. Ich erhob mich hastig und sah mich nach Chloe um. Meine Aufmerksamkeit wurde allerdings auf etwas grell Leuchtendes gelenkt, das haarscharf an mir vorbeiflog. Ich stolperte panisch rückwärts, bekam bloß jede Menge Kleiderbügel zu fassen und stürzte auf den Hintern.
Keuchend richtete ich mich auf - diesmal vorsichtiger. Endlich entdeckte ich Chloe und an ihrer Seite das Mädchen samt Bruder. Doch schon wenige Sekunden später realisierte ich die vollkommen bizarre Situation, die meine vollste Aufmerksamkeit beanspruchte.
Die restlichen Menschen waren in ihren Bewegungen erstarrt. Als hätte jemand die Zeit angehalten. Im Umkreis des Ladens konnte ich das gleiche Szenario beobachten. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Was um alles in der Welt geschah hier? Wieso waren ich und die anderen drei nicht eingefroren, sondern schleuderten einen Feuerball nach dem anderen – zumindest Chloe tat das erstaunlicherweise – auf ... Ja, auf was eigentlich? Meine Augen wanderten durch das Geschäft. Ich musste gar nicht lange suchen, da fand ich ihn schon. Den Grund, weshalb ich das Herkommen auf der Stelle bereute.
Merkwürdige, kleine Wesen. Ungefähr so groß wie ein sechs Monate altes Baby. Bloß furchtbar dürr und hässlich. Und nicht zu vergessen, die Flügel. Sie schwebten in einer großen Gruppe am Eingang des Ladens und gaben quäkende Laute von sich, die mich beinah dazu veranlassten, die Hände auf die Ohren zu drücken. Mit zu einer Fratze verzogenen Gesichtern stürzten sie sich auf Chloe und die anderen. Alle drei schafften es auf ihre Weise, die Viecher auszuschalten. Chloe formte über ihrer flachen Hand Feuerbälle und schleuderte sie ihnen entgegen. Nun wusste ich auch, was mich beinah getroffen hätte. Jedoch konnten die Dinger erstaunlich schnell ausweichen. Somit traf sie bloß mit jedem dritten Feuerball eines. Sie zerfielen sogleich zu glitzerndem Staub, der durch die Luft gewirbelt wurde und verschwand.
Chloes Freundin benutzte Bumerangs, die messerscharfe Klingen ausfuhren, sobald sie eines der Wesen streiften. Statt Blut verloren sie glitzernden Staub und lösten sich, kurz bevor sie den Boden erreichten, in Luft auf. Die Bumerangs landeten nach getaner Arbeit sicher in der Hand des Mädchens. Ihr Bruder bediente sich Messern. Die zwar zielsicherer waren, jedoch nicht von allein in seine Hand zurückfolgen.
Mit einer Mischung aus Angst und Faszination beobachtete ich das Geschehen. Unsicher, ob ich wegrennen oder mich versteckt halten sollte. Da die Welt aber scheinbar angehalten hatte, hielt ich Weglaufen für eine ungünstige Methode. Außerdem lauerten am Eingang die kleinen Biester. Und da es ganz so aussah, als würden die drei sie erledigen, verharrte ich in meiner Position. Zumindest hatte ich das vor, bis ein lautes Fauchen unmittelbar neben meinem Ohr ertönte.Ich erstarrte. Nur mit Mühe schaffte ich es, meinen Kopf langsam nach links zu drehen. Der direkte Augenkontakt mit einem der Wesen brachte meinen Körper dazu, sich aus der Erstarrung zu lösen.
Kreischend stolperte ich rückwärts, rannte um den Kleiderständer herum und zerrte reflexartig mehrere Bügel von der Stange. Noch immer kreischend schleuderte ich die paar Oberteile auf das Vieh. Natürlich wich es mühelos aus. Es gab weitere unangenehme Laute von sich und nährte sich mir. In meiner Panik stieß ich aus Versehen an einen regungslosen Menschen. Er war hart wie Stein und scheinbar so fest mit dem Boden verankert wie eine Statur. Völlig unnachgiebig.
„Was machst du da?", rief Chloe. Sie erschien in meinem Sichtfeld und schob mich an den Schultern zu ihren Freunden, die sich sogleich schützend vor mir platzierten.
„Das kann ich dir auch nicht beantworten!", antwortete ich patzig. „Dazu müsste ich wissen, was hier gerade geschieht." Keiner der Anwesenden beantwortete meine Frage. Sie waren zu sehr in den Kampf verwickelt. Und ich fühlte mich nun noch hilfloser. Liebend gerne hätte ich geholfen, aber das einzige, was ich werfen konnte, waren Klamotten.
„Wir haben es gleich geschafft!", verkündete der Junge da zu meiner Erleichterung. Fünf Wesen konnte ich noch entdecken. Der Rest war tot. Und glücklicherweise überstand ich die letzten Augenblicke des Kampfes, ohne Angriffe auf meine Wenigkeit.
Ich spähte über Chloes Schulter. Es fehlte nur noch ein Wesen. Sie hob die Hand, ließ eine Feuerball erscheinen und traf das Wesen beim ersten Versuch. Dass es zu Staub zerfiel, bekam ich gar nicht mehr mit. Vor meinen Augen verschwamm die Umgebung erneut. Mir wurde furchtbar übel. Meine Beine wollten mich auch nicht mehr tragen.
Ich fiel zu Boden, erreichte ihn jedoch nicht. Der Junge packte mich unter den Armen und schleifte mich zusammen mit den anderen in eine Ecke. Meine Sicht verschärfte sich wieder. Sofort fiel mir auf, dass im Hintergrund neugierige Gesichter von Menschen auftauchten, die aus ihrer Erstarrung erwacht waren. Es war vorbei.
„Sie hat zu wenig getrunken", kommentierte Chloe meinen Sturz, um die nervigen Gaffer loszuwerden. Warum passierte das nur mir? Hätten die anderen nicht vielleicht auch hinfallen müssen?
Während der Junge mir aufhalf, geisterten in meinem Kopf Fragen. Nicht nur in Bezug auf die Wesen, sondern auch die Frage, was Chloe und ihre Freunde damit zu tun hatten. Normale Menschen konnten eigentlich keine Feuerbälle aus dem Nichts erzeugen und sie steuern.
Und wenn wir vier die einzigen waren, die diesen Kampf miterleben konnten, war ich doch auch kein normaler Mensch, oder?

Ich nominiere aubergine14 mit dem Wort Fingerspitzengefühl - Stufe 1.

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An dieser Stelle entschuldige ich mich ganz herzlich bei der Autorin saskiarey: ich weiß, ich hatte dir dieses Kapitel schon vor einer Woche versprochen, aber ich hab es einfach nicht geschafft. Tut mir ehrlich leid, ich hoffe es ist trotzdem okay.

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