Eine Geschichte zu einer Geschichte

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Der Schnee knirschte unter meinen Füßen, als ich mich unermüdlich durch die im Schnee versunkene Schotterstraße schob. Dicke Schneeflocken wirbelten vor meinen Augen in ihrem kleinen, vom Wind dirigierten Tanz auf und ab, bevor sie sich schwebend auf die vielen Dächer, Wiesen und Felder niederließen, die so nach und nach unter einem kostbaren, fragilen, weiß funkelnden Mantel begaben wurden, und jeglicher Laut oder Lärm unter einer zuckerfeinen, kristallenen Decke aus Eis und Schnee verschluckt wurde. Der Winter hatte sich über das Land gelegt, hatte mit eisigen Krallen an unsere Haustüren geklopft und die randvoll mit Schnee gefüllten Wolken über unseren Köpfen bersten lassen. Alte Leute, deren wettergegerbte Gesichter all die Geschichten erzählten, die sie im Schaukelstuhl vor prasselnden Kaminfeuern so gerne preisgaben, munkelten vom stärksten Winter seit siebzig Jahren. Kinder tollten unermüdlich mit roten Backen im weißen Paradies herum, glückselig lachend, und jede Falte ihrer polarähnlichen Ausrüstung voll Schnee, wenn sie sich einmal aufs Neue auf ihre quietschbunten Schlitten warfen, um mit lautem Gekreische und Gesang den Hang hinunter zu schlittern. Und ich? Ich merkte nichts von der eisigen Schönheit, die die kalte Jahreszeit mit sich brachte. Ich merkte nichts von dem Lebkuchen- und Mandelduft, der auf einmal wie ein süßer Segen durch die Gassen wehte. Ich merkte nichts von alledem. Das heißt nicht, dass das immer so gewesen war. Früher, als meine Welt noch heil gewesen war.
Heute morgen war sie zerbrochen. Und zwar genau in dem Moment, als Giorgia vom Frühstückstisch aufgestanden war, und das klingelnde Telefon entgegengenommen hatte. Ich hatte es sofort gemerkt. Ich hatte es daran gemerkt, dass ihre Gesichtszüge entgleisten, als sie die aufgeregte Stimme am anderen Ende der Leitung vernommen hatte. Ich hatte es daran gemerkt, dass ihre Hand, die den Hörer hielt, anfing unkontrolliert zu zittern.
Daran, dass ihre Augen hinter salzigen Tränen verschwammen. Und spätestens daran, dass sie meinen verzweifelten Blick, in den ich all meine Hoffnung setzte, dass es nicht das war, was ich vermutete, dass sich all meine Ängste und Sorgen nicht bestätigten, dass sie diesen Blick mit einer trauernden, fassungslosen Gewissheit erwiderte, die mir das Herz zerbrach. Und für diesen Moment hörte die Welt auf, zu existieren. Ich erinnerte mich nicht, aufgestanden oder hochgelaufen zu sein, aber das nächste, was ich wahrnahm, war, dass ich in meinem Zimmer saß, auf der Bettkante, die Hände verkrampft und den Blick starr und leer in den Raum gerichtet, unfähig, das Unbegreifbare zu begreifen. Sofia. Die kleine, süße Sofia mit den strahlenden Augen und den großen Träumen. Mit Hoffnungen, die Berge versetzen konnten und Visionen von besseren Welten, in denen die ganze Welt wieder heil und ganz war und alle Menschen in Frieden lebten. Nur ohne Sofia. Sie hatte gekämpft und sie hatte verloren. Mit totem Blick schaute ich nach wie vor unverwandt in die gähnende Leere, die sich vor meinen Augen darbot. Ich nahm alle Geräusche nur noch gedämpft wahr, so, als wäre ich unter Wasser getaucht, und all die Verwirrung und der Schmerz wären an der Oberfläche haften geblieben, während ich immer tiefer sank. Aber da tropfte es weiter und weiter, und dieses Mal konnte ich es ganz genau hören. Das Blut, das aus den unzähligen frischen Wunden, die sich tief in meine Seele gegraben hatten, lief. In meinen Lungen brannte das verfluchte Feuer des Verlustes und fraß sich von innen durch mein Fleisch.
Und als sich die Wände meines Zimmers getränkt von den langen Schatten der Abenddämmerung langsam immer näher schoben, und sich die Decke langsam herabsenkte wie ein endgültiger, erstickender Käfig, sprang ich auf, griff mit fahrigen Fingern nach meinem Mantel und stürzte auf die Straße, um diesem Wahnsinn des Nichtstuns zu entkommen. Und so lief ich gerade einmal mehr um die verwinkelten Häuserecken, die klammen Hände tief in den Manteltaschen vergraben, während der raue Wind mir um die Ohren pfiff. Ein Schritt vor dem Anderen arbeitete ich mich stetig durch das rege Schneegestöber. Mittlerweile waren meine ausgetretenen Schuhe vom graubraunen Schneematsch, der sich am Rande der Wege angesammelt hatte, durchweicht, und die eisige Kälte drang allmählich durch meine dicken Wollsocken. Aber ich konnte nicht zurück. Nicht zu ihrem scharlachrot gestrichenem Zimmer mit der riesigen Weltkarte an der Wand, an der sie mit so viel Eifer mit bunten Stecknadeln die Orte markiert hatte, die sie bereits besucht hatte. Nun würden nie wieder welche hinzukommen. Nicht zurück zu dem glänzend schwarz lackierten Flügel, an dem sie Tag für Tag gesessen hatte und ihre schlanken Finger so mühelos über die Tasten geglitten waren, als sie wahlweise Chopin, Bach und Mozart gespielt hatte. Nun würde sich Tag für Tag eine feine Staubschicht, die sie immer so gehasst hatte, auf die sonst so makellosen Tasten legen. Nein, ich konnte nicht zurück. Vielleicht irgendwann. Wenn der Schmerz abgestumpft war, meine Gedanken leergefegt und meine Augen hohl und leer vor Schreck und Trauer. Aber noch saß der Schmerz frisch, und die eisige Kälte fuhr nadelnd und stechend in jede einzelne der Wunden. Meine Sicht verschwamm vor meinen Augen und tauchte meine gesamte Umgebung in ein unruhiges Gemisch aus grau und weiß.
Schniefend und mit rasselndem Atem keuchend stolperte ich immerzu bergauf und ließ die dichten Häuserreihen, die nach und nach vereinzelten Hütten und verwahrlosten Schobern wichen, hinter mir. Ein bestimmtes Ziel hatte ich nicht vor Augen, doch ich strebte grob die Spitze des an unser Dorf grenzenden „Großen Hügels" an, wie er im Volksmund gern genannt wurde. Offiziell hieß er Schildjungfernberg. Passend dazu erklangen in meinem Kopf absurderweise die ersten Töne von Wagners Ritt der Walküren. Eine einzelne salzige Träne kämpfte sich langsam meine Wange hinunter, als ich daran denken musste, dass Sofia dieses Lied immer geliebt hatte.
Geh weg, appellierte ich an den grausamen Ohrwurm in meinem Kopf, der mich so gekonnt an das erinnerte, was ich verloren hatte. So, wie wenn diese hartnäckige Melodie mich je erhört hätte.
Verschwinde! Du machst alles nur noch schlimmer! Aber die Melodie blieb. Und mit jedem einzelnen Ton wurde ich an die vielen Male erinnert, mit denen ich im Schneidersitz mit Sofia vor unserer alten Stereoanlage gesessen hatte, und zusah, wie sie genüsslich mit geschlossenen Augen zu den Klängen der Musik hin und her gewippt hatte. Mittlerweile strömten Sturzbäche über mein Gesicht, und ich gab mir keinerlei Mühe mehr, meine Miene zu verbergen. Der Wind fuhr heulend um mich herum und fegte über die weite, nun leere und ebenmäßig weiße Fläche. Hatten mir vorhin noch breite Häusermauern Schutz gegeben, so war ich nun dem gewaltigen Schneegestöber ausgeliefert. Die dicken Schneeflocken stürzten nun beinahe waagrecht daher, getrieben von der unermüdlichen Puste des Windes, der sie mir pausenlos ins Gesicht klatschte. Mit einer mittlerweile tauben Hand klaubte ich mir notdürftig und zitternd ein wenig Schnee und Eis von meinem hochroten Gesicht.
Prustend und unter Tränen erstickt fluchend floh ich außer Atem die letzten Meter den Hügel hinauf und suchte unter den schützenden und breit gefächerten Ästen der mit glänzenden Nadeln geschmückten Tannen Schutz. Vor mir befand sich ein kleiner Wald, der den gesamten Kamm des Hügels schmückte. Nach Luft ringend stützte ich mich kurz ein wenig an einem morschen Baumstamm ab, und für einen Moment war alles, was nur zwei Stunden zuvor mein Herz zerbrochen hatte, ein wenig in den Hintergrund gerückt. Hier unter dem stabilen Nadeldach war es trocken und die knisternde Schicht unter mir bestehend aus zerbrochenen Nadeln, knisterndem Laub und zermalmten Holzresten sah einigermaßen gemütlich aus. Kurzerhand ließ ich mich ächzend und umständlich auf dem nachgiebigen Boden nieder. Vor mir tobte das Schneegestöber und über mir ächzten die dicken Äste unter ihrer schweren, weißen Last. Schniefend und keuchend wischte ich mir den nassen Schnee ein wenig von meinem Mantel und schüttelte ihn mir aus den Haaren. Und da schlichen sie sich langsam wieder in meinen Kopf, die ersten Takte von Richard Wagners Walkürenritt. Und ich konnte nicht mehr. Physisch war ich vollkommen außer Atem, und meine Brust brannte noch von dem schweren Aufstieg, und psychisch war ich ein Wrack. Wieder lösten sich Tränen von meinen Augen, purzelten über die Wange und vermischten sich mit dem schmelzenden Schnee, der immer noch an meinem Gesicht haftete. Und noch während ich versuchte, mich bibbernd und zitternd aufzuwärmen, bemerkte ich auf einmal, dass ich eine Melodie summte.
Ich summte mit rauer, holpriger, brüchiger Stimme, zwischendurch von Schluchzern und rasselndem, tiefen Luftholen unterbrochen, aber ich summte. Ich summte den Ritt der Walküren von Richard Wagner. Ich summte im Einklang zur Melodie in meinem Kopf und wiegte mich bald schluchzend und summend im Takt, genau wie Sofia es all die Jahre zuvor getan hatte. Sie war immer die Musikalische von uns beiden gewesen. Sie hatte unvorstellbares Talent. Gehabt. Und während ich summte, stürzten Erinnerungen auf mich ein, die immer noch von Trauer und Wut genährte Feuerbrunst, die meine Lungen mit giftigem Rauch füllte, wurden zischend von der klirrenden, nassen Luft, die ich tief einsog, gelöscht, meine Gedanken, vorhin durcheinandergewirbelt von surrealem Wahnsinn, kühlten ab und sortierten sich langsam. Auch der peitschende Wind legte sich, und der Schneesturm flaute ab. Vor meinen Augen glitzerte eine riesige Fläche aus pulvrigem, frisch gefallenem Schnee, unberührt und rein. Der sturmwolkenverhangene Himmel riss auf, und das weiche Licht der Sonne tunkte das zugeschneite Feld vor mir in ein goldenes Abendlicht. Und als der letzte Ton meine aufgesprungenen, vor Kälte blauen Lippen verließ, verspürte ich das absurde Bedürfnis, zu lächeln. Und in diesem Moment, als noch vereinzelte kleine Flocken vor meinen Augen tanzten, geschah es, dass sich vage, kaum erkennbar, eine kleine, filigrane Gestalt aus den Flocken formte, die vor einem größeren Gebilde saß. Unsicher kniff ich die Augen zusammen, doch dies alles passierte in einem Bruchteil einer Sekunde, und im nächsten Augenblick waren die einzelnen Schneeflocken wieder durcheinandergewirbelt und die Gestalt war verschwunden. Zweifelnd sah ich zum Himmel und dann wieder auf den Boden. Aber alles blieb ruhig. Aber ich wusste, was ich gesehen hatte.
Und ich wusste instinktiv, das Sofia und ihr geliebtes Klavier sicher angekommen waren. Oben. Wieder schwammen Tränen in meine Augen, doch diesmal nicht vor Trauer. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen beugte ich mich unter den tief hängenden Ästen hervor und blickte nach oben in den undurchsichtigen taubenblauen Himmel.
„Danke", wisperte ich.

An dieser Stelle muss ich mich kurz etwas entschuldigen, ich war diese Woche ziemlich krank und konnte dieses Kapitel deswegen nicht eher schreiben.

Ich nominiere Jean_Marauder mit dem Wort „Ziffernblatt" (Stufe 1).

Eine kleine Anmerkung von mir: Ich hoffe, man erkennt, worauf der Titel dieser Geschichte anspielt ;).

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Und eine kleine Anmerkung von mir:
Falls es tatsächlich Leute geben sollte, die nicht drauf gekommen sind oder die entsprechende Geschichte nicht kennen, jedoch trotzdem gewillt sind, die Anmerkung von Fantasiamarina zu verstehen - ich empfehle euch dringend die Geschichte "Berührte Gefühle" im vorangegangenen Kapitel ;)

Wohlgemerkt großartige Idee der Autorin, diese Geschichte ist sowohl alleinstehend als auch zugehörig - man versteht sie auch ohne "Berührte Gefühle zu kennen (glaube ich zumindest :'D ), doch wenn man sie kennt, öffnet sie einem ganz neue Sichtweisen. Der Zusammenhang wirft ein ganz neues Licht auf die Geschichten - auf beide Geschichten.

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