1. Kapitel

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6 Jahre später

Kaela

Meine Hände zitterten als ich das Blattwerk zur Seite schob und hindurchlugte.

Das resignierte Schnaufen erklang erneut. Nun konnte ich auch sehen von was es kam. Der Anblick der sich mir bot, machte mich wütend. Vor mir hing ein Netz an einem Baum. Darin gefangen lag ein weißer Tiger!

Ehrfürchtig blickte ich ihn an. Mein Vater, der Stammesführer hatte oft Geschichten über Tiger erzählt. Es waren im Grunde wunderbare, anmutige Tiere. Die meisten Geschichten handelten von stolzen Tigern, die irgendetwas Gutes vollbrachten.

Es gab aber auch eine Geschichte über zwei weiße Tiger, die eigentlich keine wirklichen Tiger waren. Dies war keine schöne Geschichte. Sie war getränkt von Blut und Mord. Trotzdem war es gerade diese eine Geschichte, die mich schon immer fasziniert hatte. Denn diese Geschichte war wahr. Ich war an ihrem Beginn zwar noch nicht auf der Welt gewesen, allerdings hatte ich dann zu dem Zeitpunkt als die Protagonisten der Geschichte zu Tigern wurden, bereits ein Alter von sechs Jahren erreicht. Nun mit fast 22 erinnerte mich jedoch kaum noch an das Geschehene.

Unwillkürlich fragte ich mich, ob der Tiger vor mir einer der Tiger dieser Geschichte war. Im nächsten Moment lachte ich mich selber wegen dieser Idee aus. Das hier war nur ein armer, gefangener Tiger. Das wäre ein viel zu großer Zufall!

Ich trat aus dem Schatten. Nun stand ich direkt vor dem Netz. Der Tiger wandte mir den Kopf zu. Unsere Blicke trafen sich. Blassblaue Augen trafen auf bernsteinfarbene. Ein Knurren entstieg der Kehle des Tigers. Ich wich ein Stück zurück. Doch dann wurde mir klar, dass er mir nichts tun konnte. Nichts tun wollte. Er war einfach nur misstrauisch.
"Hey, wie bist du denn in diese Lage geraten, hm?", fragte ich ihn freundlich. Langsam trat ich wieder näher. Die Wildkatze schnaubte wieder. Es klang beinahe entrüstet. Ich musste lachen. Daraufhin wandte der Tiger demonstrativ den Blick ab. Das war seltsam. Fast menschlich.

Ich erkannte nun, das es sich bei diesem Exemplar um ein Männchen handelte. Anscheinend ein sehr stolzes. Das war bei Tigern aber wohl normal. "Was hältst du davon wenn ich dich befreie? Vorausgesetzt du fällst mich nicht danach an", schlug ich dem Tigermännchen vor. Und tatsächlich wandte er seinen massigen Kopf wieder zu mir. Seine Ohren stellten sich aufmerksam auf und seine Augen blickten wach. Ich deutete das als ein 'Ja'.

So zog ich meinen Dolch aus dem Gürtel und machte mich daran das Netz zu durchsäbeln.

Plötzlich knackte es hinter mir. Ich wollte mich umdrehen, aber da spürte ich einen harten Schlag auf den Hinterkopf und alles wurde schwarz.

Als ich wieder erwachte, umgab mich ein ohrenbetäubender Lärm. Fremde Stimmen redeten in einer Sprache die ich zwar kannte, aber nicht richtig einordnen konnte. Zu allem Ärger hatte man mir die Augen verbunden. Ich konzentrierte mich auf das Gespräch und lauschte.

Nach ein paar Minuten erkannte ich die Sprache. Es handelte sich um Hindi, eine der vielen verschiedenen Sprachen der Siedler. Sie wohnten jenseits des Dschungels und kamen nur ab und zu in den Dschungel um Bäume zu roden, manchmal zu jagen, oder zu forschen. Ein oder zweimal im Jahr kamen sie auch zu unserem Stamm. Mein Vater trieb dann Handel mit ihnen und Wissen wurde ausgetauscht. Zum Beispiel tauschten wir seltene und schwer zu findende Kräuter gegen Medikamente, die die Zivilisation hervorgebracht hatte.

Spannender fand ich es aber, wenn Forscher zu uns kamen. Ihre Geschichten von dem Leben außerhalb des Regenwaldes und in der Zivilisation waren unglaublich interessant. Diese Menschen waren so anders als wir. Wir waren sehr naturgebunden. Sie schienen die Wildnis beinahe zu hassen, so wie sie mit ihr umgingen. Für sie zählte vorallem technischer Fortschritt. Auch ihre Gewohnheiten und die Kultur unterschied sich gänzlich von der unseren. Dann hatten sie auch noch völlig anders klingende Sprachen.

 Der Prinz der TigerWhere stories live. Discover now