Die Wahrheit

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James P. o. V.

Nicht alle Lügen waren schlecht. Manchmal sah man sich gezwungen, die Wahrheit zu verschweigen, um eine andere Person zu schützen oder besser darstehen zu lassen. Oder einfach, um nicht sagen zu müssen, wie es einem wirklich ging.

Nur selten war man bereit, alle Schutzschilder fallen zu lassen und seiner vernarbte Seele ganz offen zu zeigen. Denn dadurch machte man sich nur noch verletzlicher, man lief der Gefahr entgegen, erneut verletzt zu werden.

Die Wahrheit war etwas, das man mit höchster Vorsicht behandeln sollte.

Manchmal war eine Lüge leichter zu ertragen, selbst dann wenn alle Beteiligten wussten, dass es eine Lüge war.

So wusste auch Sirius dass ich log, als er mich auf dem Weg zu den Kutschen fragte, wie es mir ging. Wie sollte es mir schon gehen? Daher sagte ich nichts und zuckte nur mit den Schultern.

"Wo warst du denn die ganze Fahrt über?", erkundigte sich mein bester Freund skeptisch, während er sich schwungvoll wie früher in die Kutsche beförderte, in der auch schon Peter und Remus saßen. "Solange kann die Besprechung doch nicht gedauert haben, oder?"

"Doch", gab ich mit dünner Stimme zurück. "Gab verdammt viel zu besprechen", log ich weiter.

"Dass du Schulsprecher geworden bist, bei Merlins Bart, das kann ich noch immer nicht ganz-", fing Remus belustigt an, aber ich schnitt ihm mürrisch das Wort ab: "Nicht auch noch du! Sei einfach still, okay?" Mürrisch rutschte ich ans Fenster der Kutsche durch und reagierte nicht weiter auf die mehr oder weniger behutsamen Versuche meiner Freunde, mich zum Reden zu bringen.

Die ganze Kutschfahrt über blieb ich so zusammengekauert sitzen und schaute mit zusammen gekniffenen Augen nach draußen. Der Himmel war von Wolken verhangen, die mir die Sicht auf die Sonne nahmen. Ich mochte sie nicht, diese grauen Wolken. Ich wollte lieber die Sonne wieder haben, die goldenen Strahlen auf meinem Gesicht spüren.

Sobald die Kutsche anhielt, drängelte ich mich an Sirius vorbei und eilte ohne auf die Rufe der anderen drei zu reagieren davon in Richtung Schloss. Meine eiskalten Finger umklammerten den Griff meines schwarzen Koffers, der auf dem Kiesweg ganz merkwürdige Geräusche machte.

Ich musste meinen flüchtigen Abgang jedoch kurzzeitig unterbrechen, da ich genau in diesem Moment einen Rotschopf aus einem der anderen Kutschen steigen sah. Mein Blick wurde etwas klarer und ich erkannte, das ist tatsächlich Lily war, die gerade etwas unbeholfen versuchte, ihren Koffer aus der Kutsche zu hieven.

Kurz spielte ich mit dem Gedanken, einfach zu ihr hinzugehen und ihr zu helfen. Ich stellte mir vor, wie ich mich ganz dicht hinter sie stellte und meine Hand auf die ihre legte. Wie ich ihr feuriges Haar zurückstrich und ihren Kopf zu mir herumwandte. Ich fragte mich unwillkürlich, was ich dann wohl sehen würde, in ihren grünen Augen.

Doch ich hielt mich zurück, ganz egal wie groß die Begierde in mir war. Ich hatte Angst. Angst, die Kontrolle über mich und meine Vorsätze zu verlieren, wenn ich ihr zu nahe kam. Dass ich dann alle Prinzipien über Bord schmeißen und auf die tausend Gründe scheißen würde, und versuchen würde, sie zurückzubekommen. Ganz abgesehen davon wie sie reagieren würde, wusste ich jetzt im klaren Zustand meines Geistes ja auch ganz sicher, dass ich das gar nicht wollte. Oder?

Als Lily vorhin aus dem Abteil der Vertrauensschüler gegangen war, hatte ich dieses seltsame Verlangen in mir gespürt, das mich fast dazu gebracht, ihr hinterher zu laufen. Bloß was ich dann gemacht hätte, das wusste ich nicht.

In meiner Fantasie? Sie an die Wand gedrückt und einfach geküsst.

In der Realität? Vermutlich dumm rumhestottert. Oder einen blöden Spruch rausgehauen.

Fakt war jedoch: Wenn ich sie sah, fühlte ich etwas in mir, dass ich nicht fühlen sollte. Das ganze letzte Schuljahr hatte ich versucht, es zu unterdrücken,  hatte mich mit anderen Mädchen vergnügt, die nicht Lily waren, und war jetzt wieder genau an dem Punkt wie vor zwei Jahren in der fünften Klasse: Ich wollte Lily.

Die Erkenntnis der Jahrhunderts.

Ich wollte sie so sehr, dass es weh tat, ich wollte ihren Körper an meinem spüren, ihre Lippen auf meinen und ihre Hände in meinen, ich wollte die Gewissheit haben, dass sie mein war und meins bleiben würde, bis in alle Ewigkeit.

Ich biss mir auf die Lippe, bis es weh tat und zwang mich still stehen zu bleiben, bis sie mit den anderen Mädchen aus ihrer Kutsche vorgegangen war. Egal wie blöd es klang, in ihrer Gegenwart war ich nicht ich selbst, und das bereitete mir eine verdammte Scheißangst.

Als ich schließlich in der Eingangshalle stand und all die Schüler an mir vorbeiströmten, um ihre Koffer abzustellen und dann zum Festessen in die Große Halle zu gehen, wo in wenigen Minuten die Auswahlzeremonie stattfinden würde, wanderte mein Blick zu den langen Haustischen, wo auch Lily saß. Mein Herz begann zu bluten, als ich sie so sah, wie sie ganz in Gedanken versunken auf die leere Tischplatte starrte, während Marlene munter vor sich hinquatschte.

Und da bekam ich plötzlich Panik.

Ich konnte da nicht reingehen, ich konnte mich nicht zu Lily an den Tisch setzen und weiter so tun, als würde ich nichts für sie empfinden, als wäre sie nur ein Mädchen gewesen, das ich einst attraktiv fand. Es war lange her, dass ich wegen Lily geweint hatte, doch nun brannten mir die Tränen in den Augen. Ohne weiter zu Zögern drehte ich auf dem Absatz um und kämpfte mir einen Weg zurück nach draußen ins Freie, weg von all den hungrigen, schnatternden Scharen von Schülern.

Blind vor schmerzender Trauer und drückender Verzweiflung rannte ich über das Gelände von Hogwarts, wo ich mich schließlich hinter einem Busch umzog. In meinen Sportklamotten fühlte ich mich gleich viel wohler, meine Reisetasche versteckte ich unter dem Busch.

Ich hatte begriffen, dass Lily nicht nur ein Liebhaber gewesen war, nicht nur eine von vielen, nicht eine von denen, die ich vergessen konnte.

Lily war die Eine, das Mädchen, das mir auch in zehn oder hundert oder tausend Jahren den Schlaf rauben würde. Es war schwer zu ertragen, dass sie nicht bei mir war, aber der Gedanke, dass sie eines Tages jemand anderen, jemand besseren gefunden haben würde, mit dem sie am Abend Liebe machen und neben dem sie am nächsten Morgen aufwachen würde, war schlichtweg unzumutbar. Ich ertrug die Vorstellung nicht, dass Lily jemand anderen lieben könnte, und zum ersten Mal realisierte ich, dass ich sie noch immer liebte.

Das war sie. Die verdammte, deprimierende, schonungslos ehrliche Wahrheit.

Völlig erschöpft ließ ich mich in das Gras sinken und sah in den Himmel, in der Hoffnung, ein bisschen von der roten Abendsonne zu sehen, doch noch immer versperrte die graue Wolkendecke meinen Himmel.

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