Bonbonglas

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Lily P. o. V.

Als ich mit zitternden Knien vor dem Abteil stand, in dem auch Marlene saß, wischte ich peinlich berührt meine schweißnassen Hände an meinen Beinen ab. An meinen fetten, schwabbeligen Beinen, dachte ich missmutig.

Ich musste mich ganz nah an die linke Seite des Gangs stellen, um einen Siebtklässler aus Hufflepuff durchzulassen. Er grüßte mich freundlich, doch ich sah ihm nicht einmal in die Augen, ich konnte es schlichtweg nicht.

Ich war der festen Überzeugung, dass mir jeder auf dieser Welt ansehen müsste, was gerade im Abteil der Vertrauensschüler passiert war.

Dass ich gestottert hatte. Wegen ihm.

Dass ich rot geworden war. Wegen ihm.

Dass ich mich geärgert hatte. Wegen ihm.

Dass ich fast geweint hatte. Wegen ihm.

Dass ich mich vor den Fünftklässlern lächerlich gemacht hatte. Wegen ihm.

Dass in mir Gefühle hochgekommen haben. Alte Gefühle, die ich doch so sehr verleugnet habe. Gefühle, die ich eigentlich hatte totschweigen wollen.

All meine tollen Vorsätze - mich professionell zu verhalten, den neuen Vertrauensschülern ein gutes Vorbild zu sein, mich voll und ganz auf meine Arbeit als Schulsprecherin zu konzentrieren - mit einem Schlag zunichte gemacht.

Von ihm, wegen ihm, alles seine Schuld.

Doch wütend konnte ich auf James nicht sein, nicht wirklich. Ich war all die letzten Jahre genug wütend auf ihn gewesen. Viel zu oft hatte ich James Potter - diesen arrogaten, selbstverliebten Widerling - verflucht, ihn gehasst und dummerweise geschworen, ihn auch bis in alle Ewigkeiten zu hassen.

Es hatte sich jetzt ausgewütet.

Ich war immer so damit beschäftigt gewesen, auf James wütend zu sein, dass ich dabei total übersehen hatte, dass er eigentlich auch ganz in Ordnung sein konnte, wenn er wollte. Dass da auch noch ein anderer James war - ein lieber, aufmerksamer, herzensguter James - ein James, den ich glaubte lieben zu können. Den ich fast ein ganzes Jahr lang geliebt hatte, tatsächlich, bis wir uns aufgrund einer ganzen Reihe von beachtlichen Gründen getrennt hatten.

Eine ganze Reihe von Gründen, die mir eben im Vertrauensschülerabteil jedoch merkwürdigerweise alle entfallen waren. Für einen Moment waren sie unwichtig geworden, diese Gründe, schlichtweg bedeutungslos, ich hatte mir einfach gewünscht, noch einmal von vorne anfangen zu können.

Nicht wütend auf James zu sein.

Ihn mein Eigen nennen zu dürfen, sein Eigen zu sein.

Ich wollte einfach nur seins sein, ihm gehören, zu ihm gehören.

Wieder ein Teil von ihm werden.

Nein, wütend war ich nicht. Nur sehr verwirrt. Und auf einmal ganz traurig.

Auch jetzt, in dieser Sekunde, als ich da atemlos vor meinem Abteil stand, fielen mir die Gründe nicht wieder ein, egal wie sehr ich mich auch darum bemühte, sie mir wieder ins Gedächtnis zu rufen.

Zu sehr hatte mich noch die Erinnerung an James' haselnussbraune Augen in Beschlag genommen, von der ich mich nun kaum lösen konnte. Er hatte mich so intensiv gemustert, wie es kein anderer tat, hatte mich so gesehen, wie nur er es konnte.

Ich bezweifelte stark, dass er von meinen Fressattacken wusste, nein, das war nicht möglich. Dennoch hatte es sich so angefühlt, als würde er direkt in mein Herz schauen, als wäre meine blutende Seele mit all den Narben und schmerzenden Wunden ganz offen für ihn sichtbar.

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