Ich vermochte nicht zu sagen, ob es ein positives oder negatives Gefühl war, das ich hatte, wenn ich an diesen Moment zurückdachte. Einerseits war ich mir seltsam entblößt vorgekommen, ganz nackt und ohne jeglichen Schutz.

Ich konnte mich nicht länger wie ein scheues Reh verstecken, wenn der stolze Hirsch mich musterte.

Andererseits hatte es sich merkwürdig gut angefühl, so von ihm wahrgenommen zu werden. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er überhaupt wusste, was er da mit mir anstellte. Ob er es mit Absicht tat und mich einschüchtern wollte oder ob einfach seine ganz persönliche Art war, mich anzuschauen.

Aber mal ehrlich, dachte ich, es war James Potter.

James Potter wusste, was er für eine Wirkung auf Mädchen hatte.

James Potter wusste immer genau, was er tun musste, um das zu bekommen, was er wollte.

Wie ein kleines, bockiges Kind, das trotzig-wütend mit dem klebrigen Zeigefinger im Supermarkt auf das Glas mit den Bonbons zeigte und am Rock seiner Mutter zerrte, um sie zum Kauf des von ihm ausgewählten Objektes seiner kindlichen Begierde zu bewegen.

Die Frage war nur: War ich James' Bonbonglas?

Blöderweise spürte ich, dass ich es gerne wäre. Sein Bonbonglas. Und das - verzeiht mir meine Wortwahl - kotzte mich ziemlich an.

Eine Gruppe von kichernden Drittklässlerinnen drängelte sich auf unhöfliche Weise an mir vorbei und bedachte mich mit unwirschen, abwertenden Blicken. Kopfschüttelnd dachte ich, dass die Kinder von heute auch immer frecher wurden. Ich bin in diesem Alter sicher nicht so gewesen, da hatte man noch Respekt vor den Älteren gehabt.

Trotzdem sah ich ein, das es langsam an der Zeit war, das Abteil zu betreten, egal wie aufgewühlt ich innerlich war. Schließlich konnte ich nicht die ganze Zugfahrt lang auf dem Gang rumlungern. Das würde dann doch neugierige Fragen aufwerfen, wenn sich die Schulsprecherin wie ein verschreckter Erstklässler nicht traute, in das Abteil zu gehen, in dem auch ihre beste Freundin saß.

Außerdem bestand die Gefahr, dass ich James begegnete, der ja noch im Vertrauensschülerabteil sitzen geblieben war, wenn ich mich nicht bald in Bewegung setzte. Dieser unschöne (und zugleich reizvolle Gedanke) brachte mich schleunigst dazu, mit bebenden Händen die Abteiltür aufzuschieben. Abgesehen von Marlene saßen auch noch zwei Sechstklässler aus Ravenclaw und ein Zweitklässler aus Slytherin bei uns, für die ich allerdings nur einen flüchtigen Blick übrig hatte.

Ich fühlte mich schon wieder so elend, als ich gegenüber von Marlene am Fenster Platz nahm. Ein Fensterplatz. Wahrscheinlich hatte es Marlenes verachtendsten Todesblick gebraucht, um mir den frei zu halten.

Es gab solche Tage im Leben, die einfach nicht schnell genug vergehen konnten, weil einfach alles schrecklich lief und so viele negative Gefühle auf einen einprasselten und man sich einfach ganz weit weg wünschte. Am besten unter die weiche, fluffige Bettdecke. Oder aber in die Arme einer Person, deren Arme entweder schon besetzt waren, oder in deren Arme man einfach nicht gehörte.

Es gab allerdings auch Tage, die man am liebsten in einem Erdbeerglas festhalten wollte, an denen die Zeit einem davon rannte und an die man sich immer erinnern würde, wenn es einem schlecht ging.

Nun, der Tag heute gehörte definitiv zur ersten Sorte.

Genau wie vorhin bei Remus war ich erneut kurz davor, in Tränen auszubrechen, ohne dass ich so richtig erklären konnte, woran das lag. Ich war ein emotionales Wrack. Wenn Marlene mich jetzt gefragt hätte, wie es mir ging, wäre es mir nicht möglich gewesen, die Wahrheit auch vor ihr zu verschweigen.

Doch sie fragte nicht, also blieb auch ich still.

"Lily, Mensch, wo warst du denn so lange? Ich hab mir Sorgen gemacht!", meinte sie aufgebracht und bot mir etwas von dem Kuchen an, den ihre Mum gebacken hatte.

Eine Spur zu aggressiv lehnte ich das Stück ab. Wieso wollte mir denn scheinbar jeder etwas zu essen andrehen? Sahen die denn nicht, wie fett ich schon geworden war?

Verwundert ließ sich Marlene in ihren Sitz zurücksinken. "Na, du bist aber gut drauf!", grummelte sie. "Ist irgendetwas passiert?"

In diesem Moment war ich extrem dankbar, dass ich James als Ausrede benutzen durfte. Ich war sowieso viel zu geladen mit allen möglichen Gefühlen, sodass es mir nicht allzu schwer fiel, zornig und mit hochrotem Gesicht zu erläutern: "Potter! Dumbledore hat tatsächlich Potter zum Schulsprecher gemacht! Marlene, jetzt stell dir mal vor, ich muss mit ihm zusammenarbeiten, das ganze Jahr! Wir beide, gemeinsam an einem Tisch, alleine, in einem Raum, nur wir beide! Kannst du dir das vorstellen?"

Marlenes blau-grüne Augen weiteten sich und wurden groß wie Untertassen. Anstatt irgendetwas Sinnvolles zu erwidern, sagte meine beste Freundin nur ungläubig: "Trinkt Dumbledore?"

"Was?", gab ich perplex zurück. "Ähm, nein. Sicher nicht. Vielleicht mal ein Butterbier und an Feiertagen ein Goldlackwasser, aber Alkoholiker ist er bestimmt nicht. Wieso fragst du?"

Das war auch so ein Problem von mir. Ich verstand keine Ironie. Und es fiel mir immer zu spät auf, was mich ziemlich frustrierte.

Normalerweise hätte Marlene mich jetzt belustigt darauf hingewiesen und etwas wie "Typisch Lily!" gekichert, doch jetzt ignorierte sie es einfach. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, diese Neuigkeit zu verarbeiten. Gefühlt tausend Mal versicherte sie sich, ob wir auch wirklich von derselben Person sprachen ("James Potter? Potter? Der aus unserem Jahrgang? Aus Gryffindor? Bester Freund von Sirius Black? Der Rumtreiber? Wirklich? Lily, bist du sicher? Trinkst du  vielleicht?") und konnte einfach nicht aufhören zu staunen.

"Krass!", meinte sie schließlich und lehnte sich gegen das Fenster.

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte - es gab so viel, was ich sagen wollte - doch ich war mir nicht sicher, ob das der richtige Augenblick dafür war, also blieb ich still. Wieder mal.

Marlene bedachte mich mit einem ganz merkwürdigem Blick. "Und wie geht es dir jetzt damit?", fragte sie fast zaghaft nach, als fürchtete sie, ich könnte jede Sekunde wie eine Bombe explodieren.

Ich zuckte nur mit den Schultern und tat, als sei das eine ganz dumme Frage, als wüsste ich nicht, was es da schon groß zu gehen gab.

Doch Marlene durchschaute mich.

Beste Freunde merken auch im Regen ob du weinst.

Es brauchte keine Worte von ihr, sondern nur diesen einen liebevollen Blick und ihre zarte, warme Hand auf meiner.

Ich kümmerte mich ausnahmsweise Mal nicht darum, was die Ravenclaws und der Slytherin nun von uns beiden dachten und Marlene war das ja prinzipiell egal. So saßen wir mehrere Minuten einfach nur da. Es war ihre eigene Art, mich zu trösten, für mich da zu sein.

"Ist schon okay", meinte ich irgendwann. Meine Stimme war viel klarer und krächzte nicht mehr so unangenehm, zumindest für den Moment war der Kloß in meinem Hals verschwunden. Ich atmete tief durch und genoss die kostbaren Stunden der restlichen Zugfahrt, in denen ich endlich mal nicht kurz davor war, in Tränen auszubrechen.


Ich danke euch für euer ganzes liebes Feedback! Ihr könnt euch ja gar nicht vorstellen, wie oft ich beim Lesen der Kommentare den Tränen nahe bin, da mich eure Unterstützung und eure Begeisterung echt emotional macht.

Danke! :)

Ich habe jetzt übrigens auch Instagram (paula.marauder) und Snapchat (paula.raedke) und würde mich sehr freuen, wenn ihr mich da vielleicht abonniert oder addet. <3

ImagineWhere stories live. Discover now