Zweiundzwanzig

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Julie hat den Kontakt mit einem Bild eingespeichert, einem Bild, das mir bekannt vorkommt.

„Kleine?", ruft Julie aus der Küche. „Wo bleibst du denn?"

„Ich komme schon!" Ich sperre den Bildschirm ihres Handys und lege es wieder auf die Kommode. Hoffentlich merkt sie nicht, dass ich ein wenig geschnüffelt habe. Andererseits – man sollte keine Geheimnisse in einer Beziehung haben, oder?

„Alexa!" Langsam klingt Julie ungeduldig, also gehe ich zu ihr in die Küche. Sie hat den Tisch bereits gedeckt, Rosinenmüsli für sie und Joghurt mit Früchten für mich. Wir haben uns diese morgendliche Routine schon nach kurzer Zeit angewöhnt, angefangen beim Klingeln des Weckers, über das Frühstück hinweg bis zum Verlassen der Wohnung.

„Schmeckt super", sage ich zwischen zwei Löffeln Joghurt.

„Wenn ich wirklich selber koche, sagst du das nie!", beschwert sich Julie und verdreht die Augen. Wir müssen beide lachen.

Ich lache, auch wenn meine Gedanken gerade ganz woanders sind. Sie kreisen um das Bild, mit dem Julie Thomas eingespeichert hat. „Sag mal... Du hast keinen Freund, dem du noch sagen solltest, dass wir zusammen sind?"

„Nein, wieso?", fragt Julie wie aus der Pistole geschossen. Ich versuche, sie anzusehen, aber sie meidet meinen Blick vehement. Etwas in ihren grauen Augen ist anders geworden, als ich das Thema Freund angesprochen habe.

„Hattest du schon mal einen?"

„Natürlich. Aber seit fünf Jahren hatte ich keinen Freund mehr." Sie lügt. Aber warum? Warum lügt mich Julie jetzt an? Ich traue mich nicht, sie danach zu fragen, will die Stimmung nicht vermiesen. Obwohl diese eh schon eiskalt ist.

Schweigend essen wir beide zuende, dann erkläre ich mich bereit, die Küche aufzuräumen. Julie zuckt bloß die Schultern und haucht mir einen Kuss auf die Wange, bevor sie aus ihrem Büro ihre Tasche holt und sich im Flur ihre hohen Schuhe anzieht. „Kleine?", ruft sie. Sie nennt mich kaum noch Alexa, meistens nur Kleine. Irgendwie gefällt mir das, denn sonst nennt mich niemand so.

Ich gehe zu ihr in den Flur und sehe zu ihr auf. Sie lächelt auf mich hinab. „Bis heute Abend, ja?", fragt sie sanft. Sie ist in Versöhnungsstimmung.

Ich kann nicht anders als ebenfalls zu lächeln, mich auf die Zehenspitzen zu stellen und sie auf ihre weichen Lippen zu küssen. „Ja", antworte ich leise. Sie streichelt noch einmal über meine Wange und geht dann zur Tür.

„Bis nachher."

Ich nicke bloß und lächele, während sie geht. Kaum habe ich die Küche aufgeräumt, gehe ich in ihr Büro und öffne eine der Schubladen. Ich nehme die Unterlagen der Firma, bei der sie arbeitet, heraus und schiebe die Babyfotos beiseite. Dabei muss ich immer noch grinsen, Julie als Baby sieht einfach zum lachen aus. Irgendwie klingt es echt fies, das über die eigene Geliebte zu sagen.

Ich finde das Bild von Julie und dem Mann, wie sie einander küssen. Es ist genau das Bild, mit dem sie Thomas in ihrem Handy eingespeichert hat. Ich starre mehrere Sekunden lang auf das Datum. Es ist erst zwei Jahre her, dass dieses Bild aufgenommen wurde. Hat Julie nicht gesagt, sie habe seit fünf Jahren keinen Freund mehr gehabt?

Ich vertraue ihr trotzdem in der Sache, dass sie jetzt keinen Freund mehr hat. Warum mache ich mir überhaupt Sorgen? Julie würde mich nie betrügen, dazu liebt sie mich zu sehr. Das weiß ich sicher, schließlich liebe ich sie genauso sehr.

Außerdem hat sie sich am Telefon mit Thomas ziemlich eindeutig gestritten. Sie liebt ihn garantiert nicht mehr, sollte sie es denn jemals getan haben.

Sie hat gelogen, als sie gesagt hat, dass sie seit fünf Jahren keinen Freund mehr hatte. Der einzige Grund, der mir dafür einfällt, ist, dass sie will, dass ich ihr vertraue. Und dass sie glaubt, ich würde ihr mehr vertrauen, wenn ihre alten Beziehungen in sehr weit entfernter Vergangenheit liegen.

Sie hat es sicher alles nur aus Liebe getan.

JulietWo Geschichten leben. Entdecke jetzt