six (j)

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Wütend knalle ich das Bild und den bunten, kleinen Zettel auf den Tisch. Während ich mir durch die Haare raufe, gehe ich in die Küche und öffne einen der vielen Kästen. Einige Teller kommen dahinter zum Vorschein. Genervt lasse ich es wieder zufallen und öffne das nächste. Gläser erscheinen in meinem Blickfeld und ich greife nach dem Ersten. Dann wende ich mich dem grauen, in die Wand eingelassenen Regal zu. Ohne zu sehen nach was ich greife, nehme ich eine Flasche, die ich öffne und den Inhalt in meinen Becher schütte. In einem Zug trinke ich es auf. Whiskey. Dann fülle ich mir nach, lasse die Flasche einfach stehen und begebe mich ins Wohnzimmer. Dort setze ich auf die Couch und strecke meinen Arm nach der Fernbedienung aus. Mit einem kleinen Klicken, springt der Flachbildfernseher ein paar Meter vor mir an. Noch immer wütend zappe ich durch die verschiedenen Kanäle, finde aber nichts was mich interessiert. Dann komme ich zu irgendeinem Blogbuster. Da es das Beste ist was ich finden kann, schaue ich es mir an.

Zum zweiten Mal nippe ich erst an meinem Drink, als die Türglocke schrillt. Meine Wut ist immer noch nicht verflogen aber meine Neugier besiegt meine Faulheit und ich wälze mich, mit meinem Glas, von der Couch und gehe zur Tür. "Muss sich wohl verirrt haben, denn warum sollte jemand bei mir läuten?", schießt es mir durch den Kopf und drücke die Klinke nach unten, bevor ich die Tür schwungvoll aufschwinge. Vor mir steht ein Mädchen und starrt mich mit einem teils hoffnungsvollen, teils misstrauischen Blick an. "Du hast dich verirrt.", begrüße ich sie, bevor sie auch nur ein Wort gesagt hat. "Ist das hier die Nummer 7b in der Hilligan Street?", fragt sie, meine Begrüßung ignorierend. Augenrollen zeige ich auf das Schild neben der Tür, auf dem die Hausnummer steht. "Gut.", meint sie zufrieden, als sie sieht, dass sie an der richtigen Hausnummer ist. "Was willst du?", frage ich und trinke einen Schluck. "Ich bin...", fängt sie an, aber ich unterbreche sie mit einer Handbewegung. „Es interessiert mich nicht wer du bist. Was willst du? Ich sehe gerade einen Film und will nichts verpassen.", lüge ich, da mir der Film wirklich egal ist. Ich will einfach wieder in Ruhe in meine Wohnung zurück und mich weiter ärgern. Vielleicht betrinke ich mich auch, aber da bin ich mir noch nicht sicher.

"Du warst am Flughafen.", meint sie nun und beobachtet mich gespannt. Das lässt mich aufhorchen. Jetzt mustere ich das Mädchen genauer. Groß, weiße Haare und große, graue Augen. Sofort wirble ich herum und gehe zum Tisch. Dann schnappe ich das Foto und komme wieder zur Tür. In einer fließenden Handbewegung halte ich die Fotografie neben ihr Gesicht. Das Mädchen auf dem Bild ist dasselbe wie das, das vor mir steht. "Wer bist du?", knurre ich und mache einen Schritt auf sie zu. Sie weicht einen Schritt zurück. "Kala.", kommt eine kurze Antwort zurück. "Wer bist du?", kopiert sie meine Frage. Ich lache kurz auf. "Du stehst vor meiner Tür und fragst wer ich bin?", erkläre ich den Grund für mein Lachen. "Ja.", erwidert sie, als wäre es etwas vollkommen Normales. "Darf ich reinkommen?", fragt sie, nachdem sie merkt, dass ich ihre Frage nicht beantworte. Verdutzt starre ich sie an, dann, da mir nichts anderes einfällt, nicke ich. "Schöne Wohnung.", staunt sie und ich nicke einfach wieder. "Wie kann sich ein Jugendlicher so etwas leisten?", bohrt sie weiter. "Reiche Eltern.", ist das erste was mir einfällt und diesmal nickt sie. Schnell schalte ich den Fernseher aus und sie setzt sich auf einen Stuhl am Tisch. "Bekomme ich auch so etwas?", fragt sie und zeigt zu meinem Glas. Statt einer Antwort lasse ich nicht einfach auf einen Stuhl fallen, nehme einen provozierenden Schluck und starre sie an. Sie spannt ihren Kiefer an, spricht dann aber weiter, als wäre nichts passiert. "Also, wer bist du?"

"Wie gesagt, du bist zu mir gekommen.", blocke ich ab. "Du hast ein Bild von mir in deiner Wohnung und" sie hört auf zu reden, um den kleinen Zettel zu inspizieren "einen Zettel mit der Ankunftszeit meines Flugzeugs hier in New York." Überrascht starre ich sie an. "Deine Ankunftszeit?" Sie kichert. "Anscheinend weißt du nicht einmal was du hier in deiner Wohnung hast." "Jae.", stelle ich mich widerwillig vor und schiebe mein Kinn vor. Sie versteht. "Kala." Ich nicke und ziehe zwei weitere Fotos aus meiner Tasche. "Du bist nicht die Einzige.", meine ich. "Die Einzige von was auch immer.", denke ich. "Kennst du sie?", frage ich vorsichtig und gebe Kala die Fotos. Zuerst schüttelt sie den Kopf, dann zeigt sie aber auf das Bild mit dem asiatischen Mädchen. "Die war bei mir im Flugzeug." "Woher kommst du?" "London. Der Flieger war aber aus Tokio." "Und der Junge?", will ich wissen und nicke zu dem anderen Bild. Sie schüttelt den Kopf. "Und?", fängt sie nach einer Weile in der wir beide geschwiegen haben wieder an zu sprechen. "Und was?" "Hast du auch", sie stockt und sucht nach den richtigen Worten "Kannst du dich auch an nichts mehr erinnern?" Etwas überrumpelt starre ich sie an. Zögernd nicke ich. "Ich bin in einem Hotel aufgewacht. Mit diesem komischen Rucksack und einem Flugticket hierher." "Einem schwarzen Rucksack?", will ich sofort wissen. Sie nickt und ich stehe auf um in den oberen Stock zu laufen.

"Genau so einen.", stimmt sie zu, als ich ihr meinen Rucksack unter die Nase halte. "Mit was war deiner gefüllt?", fragt sie. "Ausweise, ein Handy, geschützt durch einen Code, eine Geldtasche, mit ein wenig Geld, ein Stadtplan und ein Buch." "Ein Buch?" "Einen Reiseführer.", meine ich schulterzuckend und zeige auf das Bücherregal unterhalb des Fernsehers. Das Buch ist das einzige im Regal und es sieht ziemlich einsam aus. "Ich habe ein anderes Buch.", stellt sie klar und öffnet ihren Rucksack, der identisch zu meinem ist. Heraus zieht sie ein dickes Buch mit dem Titel "Die Erfindung der Zeit und ihre Auswirkungen". "Wie ist deine Zahl?", fragt sie weiter und lässt die Bücher links liegen.

"6294615"

Diese Zahl hat sich inmein Gehirn gebrannt. "Es ist der Code für dein Handy.", erklärt sie mir. "Zumindest war das bei mir der Fall." Schnell hole ich das Handyaus dem Rucksack und es stimmt tatsächlich. "Such nach persönlichen Daten.Telefonnummern, Bildern oder ähnliches.", rät sie mir doch mein Handy ist vollkommen leer gefegt. Keine persönlichen Daten. Wieder ist es eine Weile still, doch diesmal scheint die Stille bedrückend. Es ist wieder Kala, die die Stillebricht. "Und, kannst du es auch?", will sie fast ehrfürchtig wissen."Auch was?", erwidere ich verwirrt. Sie holt tief Luft. "Kannst du auch die Zeit anhalten?"

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