Frühstück in London

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Nein.

Man würde sich lediglich beim Frühstück in Hogwarts den Honig reichen, mit einem gezwungenen, höflichen Lächeln und dabei peinlich genau darauf bedacht sein, einander nicht in die Augen zu schauen. Im Gemeinschaftsraum würde man sich extra auf die andere Seite des Zimmers setzen und vorgeben, den jeweils anderen nicht zu sehen, aber wir würden alle wissen, dass der andere wusste, dass man selber wusste, dass der andere wusste, dass man da war. Auf den Korridoren würden wir einander verlegen begrüßen, mit einem flüchtigen Winken wahrscheinlich.

Ja. Genauso würde es auch dieses Jahr werden. Eine Wiederholung des sechsten Schuljahres. Alice brauchte uns nicht, sie hatte ja schließlich Frank.

Wie sehr ich mir doch wünschte, Mary wäre auch bloß in den Urlaub gefahren.

Für eine Weile schwiegen wir beide einvernehmlich, hingen jeweils unseren eigenen Gedanken nach, ließen die Seele hoch fliegen, nur um dann wieder zu stürzen.

Bevor die Melancholie mich endgültig ergreifen und an sich binden konnte, sprang Marlene plötzlich auf. "Der Flug war lang, ich habe Hunger. Gehen wir etwas essen?", fragte sie und war bereits an der Tür.

Mit einem schlechten Gewissen dachte ich daran, dass ich eigentlich besser abnehmen sollte.

Sport statt Essen.

Doch das konnte ich Marlene nicht sagen, sie würde es nicht verstehen. Vermutlich würde sie verständnislos etwas erwidern wie: "Aber Lily, du bist doch total schlank, du musst nicht abnehmen. Sei nicht albern." Dabei musste sie gar nicht so tun. Es gab eine Zeit, in der sie wenig gegessen hatte, sehr wenig. Mary war es gewesen, die Marlene wieder auf den rechten Pfad gebracht hatte.

Es war einfach nur unfassbar lächerlich, mich mit Marlene zu vergleichen, denn während ich mit dicken Schenkeln und Bauchfett zu kämpfen hatte, war ihre Figur so sportlich wie nie. Unfassbar. Neid kochte in mir hoch, und eine ungeheure Wut auf mich selbst.

Wieso konnte ich nicht so schlank sein wie Marlene?

Wieso musste ich immer so viel essen?

Doch auch mein Magen knurrte, ich hatte heute bewusst auf das Frühstück verzichtet. Mir kam der Gedanke, dass ich dann ja eigentlich etwas essen konnte. Oder nicht?

"Meinetwegen", murmelte ich schließlich. Da Marlene und ich beide bereits 17 Jahre alt waren und unsere Prüfung in der sechsten Klasse bestanden hatten, apparierten wir rasch auf Marlenes ausdrücklichen Wunsch hin nach London.

"Das Frühstück im Flugzeug war grauenhaft, glaub mir!", meinte sie mit einem dramatischen Stoßseufzer und hielt mir die Tür zu dem kleinen Cafè auf. Mit einem gekonnten Augenaufschlag sicherte sie uns gute Plätze am Fenster, die uns der junge, durchaus attraktive Kellner grinsend zuwies.

Man hatte einen grandiosen Blick auf die Themse, auch an einem verregnetem Morgen wie diesem.

Ich hatte heute noch nichts gegessen. Ich konnte etwas essen. Ich musste etwas essen.

An diesen Gedanken klammerte ich mich, als ich ein Schokocroissant und eine heiße Schokolade bestellte. Marlene wählte ein ganzes Frühstücksmenü und irgendwie fühlte ich mich gut, als unser Essen kam und sie viel mehr auf dem Teller hatte als ich.

Eine Sekunde später bereute ich diesen Gedanken schon wieder. Marlene konnte es sich - ganz im Gegensatz zu mir - auch leisten, viel zu essen. Außerdem war es widerlich sich am Leid von anderen zu erfreuen.

Wir beide genossen stillschweigend die Ruhe des Morgens.

"Wer ist eigentlich der Schulsprecher?", fragte sie mich mit gerunzelter Stirn. Natürlich hatte ich ihr in meinem letzten Brief mitgeteilt, dass ich von Dumbledore das Amt der Schulsprecherin zugeteilt bekommen hatte.

Ahnungslos zuckte ich mit den Schultern. "Keine Ahnung", gab ich zurück. Innerlich hoffte ich so sehr, dass es Remus war. Es wäre so viel leichter und angenehmer, mit ihm zusammen zu arbeiten als mit irgendeinem besserwisserischen Ravenclaw.

"Ich beneide dich nicht", sagte sie vage lächelnd und dippte ihren langen Zeigefinger in das kleine Schälchen mit Marmelade. "Das ist ziemlich anstrengend." Genüsslich leckte sie sich den Finger ab.

Unwillkürlich musste ich schmunzeln. "Schon klar", erwiderte ich. "Du bist doch nur neidisch, weil du nicht mal Quidditchkapitänin geworden bist!"

Marlene zog spöttisch die Augenbrauen zusammen. "Was heißt hier 'nicht mal'? Außerdem wird Sirius das sicher gut machen. Ein bisschen Ablenkung wird ihm gut tun, denkst du nicht?"

Zögerlich nickte ich. "Bestimmt."

Ein merkwürdiges Gefühl hatte sich in meinem Bauch ausgebreitet. Das war alles so endgültig, so abschiedsmäßig. Ich mochte keine Abschiede.

"Wollen wir gleich im Anschluss noch die Einkäufe in der Winkelgasse erledigen?", fragte ich. Mir war etwas unbehaglich zumute. Marlene schien es ganz ähnlich zu gehen, denn sie rief mit einem gekünstelten Lächeln: "Lily, wie kannst du jetzt bloß schon an die Schule denken?"

"Komm schon. Es ist unser letztes Jahr. Letztes Mal Winkelgasse. Gemeinsam?" Fast flehend sah ich sie an. Ich brauchte jetzt etwas Vertrautes, etwas, das mir aus meinem früheren Leben geblieben war, wo doch so viel sich verabschiedet hatte.

Mary. Alice. James.

Sirius. Peter.

Petunia.

Dorea. Charlus.

Dafür, dass ich Abschiede hasste, hatte ich ziemlich viele hinter mir.

"Gemeinsam", bestätigte Marlene mir mit einem schwachen Lächeln.

ImagineWhere stories live. Discover now