Eins

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„Tisch fünf", sagt Lena und schiebt das Tablett mit der Kaffeetasse über die Theke. Ich nehme es, drehe mich um und sehe durchs Café. Tisch fünf ist der am Fenster, an dem eine junge Frau im Hosenanzug sitzt und an ihrem Laptop arbeitet. Mit kleinen Schritten gehe ich zu ihrem Tisch und stelle die Tasse ab.

„Bitte sehr", flüstere ich leise.

„Vielen Dank", antwortet sie kühl, ohne mich anzusehen. Ich bin froh, dass ich dieses Mal alles richtig gemacht habe, denn vor fünf Minuten, als ich einen Kunden bedient habe, bin ich unterwegs einem schlafenden Hund auf die Pfote getreten und habe die Bestellung an den falschen Tisch gebracht. Jetzt ist alles glatt gelaufen.

Zu früh gefreut. Als ich mich umdrehe, um zurück zum Tresen zu gehen, stoße ich, ungeschickt wie ich bin, mit dem Tablett die Kaffeetasse um. Der Kaffee verteilt sich über dem Tisch und tropft auf den Anzug der jungen Frau, die sofort aufspringt und einen leisen Aufschrei verlauten lässt, weil der Kaffee kochend heiß ist. Ich schäme mich, meine Wangen kribbeln und ich bin bestimmt knallrot. Kann sich der Boden bitte auftun und mich verschlingen? „Es tut mir leid!", beteuere ich und sehe aus dem Augenwinkel, wie Lena angelaufen kommt.

„Was ist passiert?"

Ich erwarte, dass die Kundin mich jetzt bei Lena schlechtmacht und ziehe deshalb den Kopf ein. Doch die junge Frau lächelt Lena an. „Das war meine Schuld, ich habe meinen Kaffee versehentlich verschüttet. Ihre Mitarbeiterin wollte mir nur helfen. Darf ich fragen, wo hier die Toiletten sind?"

Lena sieht skeptisch zu mir, sagt dazu aber nichts. „Dort hinten. Soll ich Ihnen einen neuen Kaffee bringen?"

„Das wäre sehr nett, vielen Dank", sagt die Kundin und geht an uns vorbei zu den Toiletten.

„Gut, Alexa, wischst du bitte den Tisch sauber? Ich mache schon mal einen frischen Kaffee." Ich bin mir sicher, dass Lena weiß, dass ich an der Sauerei schuld bin. Trotzdem sagt sie immer noch nichts darüber und ich bin dankbar dafür. Aus dem Nebenraum hole ich einen frischen Lappen und wische den Tisch sauber. Zum Glück ist der Laptop der jungen Frau unbeschädigt geblieben.

Als ich mit dem frischen Kaffee wieder an ihren Tisch komme, sieht sie mir entgegen und lächelt. „Vielen Dank", sagt sie, als ich die Tasse vorsichtig auf den Tisch stelle.

„Das... tut mir echt leid, ich zahle natürlich die Reinigung", sage ich und deute auf ihren Anzug.

„Oh, das brauchen Sie nicht zu tun. Ich weiß, dass man als Student manchmal knapp bei Kasse ist." Sie kramt in ihrem Portmonee und drückt mir das Geld für ihr Getränk in die Hand. „Stimmt so", lächelt sie.

„Vielen... vielen Dank", stottere ich. Ich schäme mich immer noch dafür, dass ich so tollpatschig war. Und diese Frau macht mich irgendwie nervös. Woher weiß sie eigentlich, dass ich Studentin bin?

„Sollten Sie irgendwann Hilfe brauchen, rufen Sie mich einfach an." Ohne zu fragen nimmt sie mir meinen Schreibblock aus der Hand und schreibt einen Namen und darunter eine Nummer auf. „Ich stehe rund um die Uhr zur Verfügung. Außer von dreiundzwanzig Uhr bis sechs Uhr, dann brauche ich meinen Schönheitsschlaf." Lachend gibt sie mir den Block wieder. Ich zwinge mich, zu lächeln.

„Okay... danke", murmele ich, stecke den Block wieder in meine Tasche und gehe zum Tresen. Heimlich werfe ich einen Blick darauf, als Lena woanders beschäftigt ist. Juliet Hansen. Darunter eine Handynummer.

Warum hat sie mir ihre Nummer gegeben? Ich sehe noch einmal zu ihr, doch sie ist beschäftigt. Verwirrt stecke ich den Zettel ein und überlege, was ich mit der Nummer machen soll. Sollte ich sie den Kumpels meines Freundes geben? Diese Juliet sieht ja schon ziemlich gut aus...

Ich verwerfe den Gedanken, dazu hat sie mir ihre Nummer sicherlich nicht gegeben. Lena ruft nach mir und ich vergesse diese Frau wieder. Das nächste Mal, als ich zum Tisch fünf sehe, ist Juliet nicht mehr da.

JulietWo Geschichten leben. Entdecke jetzt