3. Kapitel (1)

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Am nächsten Tag, Samstag, hatte meine Schwester schon Pläne: Eine von Lloyds Schulfreundinnen war in Lacuna zu Besuch und hatte ihn und Page eingeladen, sich mit ihr zu treffen.

»Wir wussten nicht, dass du so früh kommst. Aber wir können natürlich absagen, wenn du ...«

»Kein Problem«, wehrte ich ab. »Ich verbringe den Tag einfach mit meinen vielen neuen Freunden.«

Page schien erleichtert. Offenbar kannten sie in Lacuna nicht mal so was wie Sarkasmus.

Gleich nach dem Frühstück floh ich im Kolibri. Ich wollte eigentlich nur ziellos herumfahren, fand mich aber vor Sarahs Bungalow wieder. Der Carport stand leer und ich malte mir aus, wie Sarah und ihre Familie – Mom und Dad und der Cop-Bruder – in einem Vergnügungspark abhingen. Oder was immer glückliche Familien sonst so taten.

Beim Umkehren redete ich mir ein, dass ich kein bisschen enttäuscht war und ohnehin am liebsten allein die Gegend erkunden wollte.

Nur leider erwies sich Lacuna als ein Kaff, in dem es nichts zu erkunden gab: nichts außer ein oder zwei Läden und Diners und dazu haufenweise Hühner-, Rinder- und Schweinefarmen, Mais- und Sojabohnenfeldern. Irgendwann bog ich von der Main Street ab und landete auf einem ungepflasterten Feldweg, der sich über einen Hügel schlängelte. Auf der Kuppe kurbelte ich das Fenster herunter.

Ganz Lacuna breitete sich unter mir aus: Ich sah Pages Haus, Sarahs Bungalow und den Glas- und Backsteinkomplex der High School. Hier lag mein neues Zuhause – doch es fühlte sich nicht wie ein Zuhause an, genauso wenig wie Arkansas und Michigan je mein Zuhause gewesen waren.

Manche Leute hatten Bungalows und gelbe Vorhänge oder Büros mit einer Couch darin. Ich hatte eine Sporttasche, zwei Koffer und den Kolibri.

»Du bist mein Zuhause.« Ich tätschelte sein Lenkrad, bevor ich wieder aufs Gas stieg.

Auf der Hügelkuppe verlief die Straße eine Weile parallel zu einem Wäldchen und endete an einem Parkplatz. »W. Point« und dazu einen Pfeil, der in den Wald führte, hatte jemand an einen Baum gepinselt. Ich spähte zum Beginn des Wegs, dann hinab auf Lacuna. Wandern war nicht gerade mein Hobby, aber es war besser, als in Lloyds Büro zu sitzen und Hausaufgaben zu machen.

Warum also nicht?

Schon nach einer Viertelmeile Fußmarsch fing ich an, meinen Entschluss zu bereuen. Der Weg verlief steil abwärts und war staubtrocken – regnete es in Indiana eigentlich nie? Bei jedem Schritt wirbelte ich eine lehmige Wolke auf und meine weißen Sneakers färbten sich braun. Shorts und ein knappes Top mit mehr Spitze als Stoff ergaben auch nicht gerade das ideale Outfit für eine Waldwanderung: Genervt schlug ich nach den Mücken, die es sich auf meinen zerkratzten Armen und Beinen bequem machten. Ich hatte keine Karte der Umgebung, keinen Kompass und nicht mal Wasser, nur eine lauwarme Dose Cola aus dem Handschuhfach. Bestimmt würde ich verdursten oder mich rettungslos verirren!

Mein einziger Trost war, dass der Kolibri gut sichtbar auf seinem erhöhten Parkplatz stand: Wenn ich nicht mehr heimkäme, wüsste Page wenigstens, wo sie anfangen sollte zu suchen.

***

Mom war stinksauer gewesen, als wir erst ein Jahr später von Pages Hochzeit erfahren hatten. Dass es so lange gedauert hatte, war aber eher unsere Schuld gewesen als Pages: weil Mom ständig vergessen hatte, die Telefonrechnungen zu zahlen, und weil wir in dem Jahr innerhalb Michigans viermal umgezogen waren – erst nach Bay City und dann nach Grand Rapids, in zwei Motels und einen Trailer und noch einen Trailer, bis die Schulsekretärinnen schon angefangen hatten, komisch zu gucken. Der letzte Trailerpark, zehn Meilen außerhalb von Grand Rapids, hatte nicht mal Internet gehabt, bloß ein paar Tätowierstudios und den Laden der Heilsarmee. Dort waren Tiff und ich auf die Jagd nach Vintage-Klamotten gegangen.

»Bist du auch sauer auf deine Schwester?«, hatte mich Tiff auf dem Dach ihres Trailers gefragt und an einer ihrer stinkenden Menthol-Zigaretten gezogen, während Furcoat, ihr Chihuahua, zwischen unseren Beinen rumgesprungen war.

Ich hatte Ja gesagt. Wenigstens mich hätte Page zur Hochzeit einladen können, wenn schon nicht Mom. Sie hatte uns ein Foto geschickt. Lloyd trug darauf einen Anzug, sie ein Kleid, das garantiert nicht von der Heilsarmee kam. Wahrscheinlich waren wir ihr einfach nicht mehr gut genug.

Page hatte zu dem Foto einen langen Brief geschrieben. Den hatte Mom zuerst zerrissen und dann mit Klebeband geflickt. Tante May hatte auch geschrieben, angerufen und Mom ins Gewissen geredet, dass Page nun mal ihr eigenes Leben führen wollte und dass Trailerparks kein Platz für junge Mädchen seien.

»Aber du bist doch gern bei mir?«, hatte mich Mom mit dem Blick gefragt, der immer hieß, dass sie ein Ja hören wollte.

Ich hatte die Schultern gezuckt. Das einzig Gute an Michigan waren Mack, Tiff und die Kolibris gewesen.

KolibriküsseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt