Traurige Wahrheiten

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Richmond, 2015

„Warum können wir nicht einfach mal normal miteinander reden?", fragte Sandra mich genervt.

„Was verstehst du denn bitte unter normal?" Ich rollte mit den Augen und brachte meinen Teller in die Küche. Ich war gerade von der Schule nach Hause gekommen und ziemlich fertig. Das Letzte, was ich jetzt brauchte war, dass Sandra mit mir über irgendetwas reden wollte.

„Lou, bleib hier!" Das klang eher wie ein Befehl als eine Bitte. Ich dachte gar nicht daran auf sie zu hören und ging in die Küche.

„Warum muss ich erst von meiner besten Freundin erfahren, dass du dich mit deiner gestritten hast?" Oh ja, komischerweise war die Tochter von Sandras bester Freundin auch meine, jedenfalls war sie das gewesen. Bis ich sie mit dem Jungen herummachen sah, in den ich verliebt war.

Ich setzte mich wieder an den Tisch.

„Ganz ehrlich, Sandra: ihr erzählt mir auch nicht immer alles. Warum sollte ich das also tun?!" Ich war im Moment wirklich nicht in Stimmung für eine friedliche Auseinandersetzung.

„Was soll das denn jetzt bitte heißen?" Ihre Stimme wurde lauter. Ich funkelte sie wütend an.

„Du weißt ganz genau was das heißt!" Einen Moment lang schwiegen wir beide und ich hatte das Gefühl, man könnte die Spannung zwischen uns beiden regelrecht anfassen.

„Ihr lasst mich seit Jahren im Unklaren darüber, wer meine leiblichen Eltern sind. Ich habe ein Recht darauf das zu erfahren, egal ob ihr denkt, dass es mir schaden könnte oder nicht!", vollendete ich meinen Satz. Sandra seufzte, sie klang jetzt eher erschöpft als genervt.

„Ich hatte befürchtet, dass das Thema irgendwann noch mal hochkommt." Sie machte eine Pause.
„Eigentlich sollte ich auf Chris warten, um dir das alles zu erzählen..."

„Ich will es aber jetzt wissen!"

Ich wollte schon aufspringen und meinen Stuhl zurückschieben, doch sie hielt mich am Ärmel fest.

„Ist ja gut, bleib sitzen. Das könnte etwas länger dauern." Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas.

„Die Wahrheit ist, Lou, ich weiß fast gar nichts. Wir haben dich mit fünf adoptiert, du warst in einem Waisenhaus in London. Sie hatten da eine Akte über dich... dass du öfter auffällig wärst, Weinanfälle in der Nacht, kannst du dich daran noch erinnern?" Ich schüttelte benommen den Kopf.

„Auf jeden Fall kennst du die Geschichte ja schon, ich fand dich einfach zu niedlich und habe dich gleich beim ersten Besuch in mein Herz geschlossen. Und einen Monat später warst du hier. Bei uns. Natürlich habe ich mir öfters Gedanken gemacht, dein Nachname, Cartier, lässt jedenfalls auf irgendeine französische Verwandtschaft zurückschließen."

Ich holte tief Luft.
„Aber warum konnte man meine Mutter nicht einfach darüber herausfinden?" Sie sah mich mitleidig an und erst da kapierte ich es. Meine Eltern hatten mich wirklich weggegeben.

Ich hatte mein ganzes Leben lang gehofft, ich sei verloren gegangen, meine Eltern waren gestorben oder was auch immer. Aber dass sie mich freiwillig weggegeben hatten, hatte ich mir nie vorstellen können. Bis jetzt.

„Es gibt Gründe, Lou, Gründe, die wir uns jetzt vielleicht nicht vorstellen können, aber in ein paar Jahren wirst du es verstehen...", rief sie mir noch hinterher, doch da war ich bereits die Treppe hinauf in mein Zimmer gerannt.

Ich weinte, bis keine Tränen mehr kamen. Ich hörte Sandra an die verschlossene Tür klopfen, hörte sie mit Chris telefonieren, doch das alles geschah irgendwo anders. Ich bekam dieses eine Bild nicht aus dem Kopf. Ein Baby, ganz allein, in einer Kiste vor einem Waisenhaus.

Something like magicWo Geschichten leben. Entdecke jetzt