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23.4.2016

Kai, ich möchte dir eine Seite widmen.
Ich kann mich nicht erinnern, ob ich es schon einmal gemacht habe, aber wenn dann sicher nicht gescheit.
Ich finde, dass ich, wenn ich tot bin, dir genau das hier schulde.
Ich schulde dir eine Erklärung, wieso du meine Leiche aufgefunden hast.
Ich denke bereits darüber nach, wie ich es mache, weißt du.
Ob ich mich erschieße oder erhänge.
Gehört habe ich, dass Tabletten am angenehmsten sind.
Aspirin soll blutverdünnend sein, vielleicht schlucke ich davon einfach ein paar.
Ist es nicht ironisch, dass ich, wenn du das liest, schon tot bist?
Sonst würdest du dieses Büchlein nicht in die Hände bekommen.
Und du weißt nun auch, für welche dieser Todesarten ich mich entschieden habe.
Wirst du zu meinem Begräbnis kommen, Kai?
Wirst du eine Wunde sehen? Oder kaum etwas?
Vielleicht sieht es aus, als würde ich schlafen. Schlafen kann ich in letzter Zeit nicht, weißt du.
Ich habe so schlimme Alpträume.
Und ich zähle die Tage.
Die Tage bis ich erlöst bin. Die Tage, bis ich diese Hölle nicht mehr ertragen muss.
Aber diese Seite ist für dich Kai, und ich schreibe viel zu viel über mich.
Das interessiert keinen.
Aufmerksamkeitsuchend, Mitleidwollend, nennen sie es.
Aber verdammt Kai, auch wenn wir immer und immer wieder immer und immer öfter streiten- Kai du warst mir wichtig. Ich kenne kaum eine Person, die mir so beigestanden ist wie du.
Und eigentlich weiß ich nicht, warum ich diese Seite schreibe.
Vielleicht um mich zu rechtfertigen. Vielleicht um es dir zu erklären.
Aber wenn du das Buch gelesen hast, dann kann ich dir garantieren, dass du alles weißt. Das du verstehst, was ich denke. Dass du sauer bist, wegen den Dingen, die ich über dich geschrieben habe.
Und ich schreibe hier nicht einmal alles rein.
Verdammt, Kai, ich weine. Du würdest sagen, dass es okay ist manchmal zu weinen.
Aber ich weine und weine und trotzdem lache ich dabei.
Ich bin süchtig nach dem Schmerz, den die Tränen mit sich bringen. Ist das gestört? Ja. Das ist es. Es tut mir leid, ich will dir keine Angst machen. Es ist komisch, dir zu schreiben.
Ich hätte auch mit dir reden können.
Aber Kai...
Es tut mir leid.
So vieles.
Aber am meisten, dass ich nicht stark genug bin so lange durchzuhalten. Dass meine Entscheidung nicht mehr unglücklich sein zu wollen dich unglücklich macht.
Dass ich keine Lust mehr auf Kämpfen hatte.
Aber für was soll ich kämpfen Kai?
Weswegen?
Wegen dem Leben?
Weil ich kaum etwas erlebt habe?
Weil es schön und lebenswert ist?
Sind wir mal ehrlich.
Leben ist sinnlos.
Das ist der Sinn des Lebens.
Leere.
Nicht vorhanden.
Einfach nur Stille.
Aber ich möchte dir nun diese Seite widmen.
Kai, ich kenne dich schon mein ganzes Leben. Damals als ich im Kindergarten neu eingezogen bin, kannte ich niemanden. Ich war die Neue. Die aus einer anderen Stadt. Von ganz weit weg.
Und du hast mich aufgenommen.
Wie eine Schwester.
Und dieses Gefühl von Geborgenheit ist nie verloren gegangen, egal was war.
Aber Kai, Menschen ändern sich.
Und ich habe das Gefühl, dass du mit meiner Veränderung nicht umgehen kannst.
Das verstehe ich.
Ich kann es auch nicht.
Und das Schlimmste ist,ich verändere andere mit mir.
Es tut mir leid, wenn ich dich beschimpfe. Ich weiß, wie du dir Vorwürfe machst, dass ich tot bin.
Ich weiß, dass es dir schlecht geht.
Und deswegen widme ich dir die Seite.
Um dir zu versichern, dass man immer eine Wahl hat.
Aber ich habe meine getroffen.
Danke, Kai.
Danke, dass du für mich da warst.

365 DAYSWhere stories live. Discover now