Kapitel 1

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Alles anders

Das Meer rauschte. Eine kühle Brise blies über meine Haut. Charlies Hand lag auf meinem Bauch und ein wohliges Kribbeln breitete sich von dort aus. Dann bewegte er die Hand nach oben. Ich sah ihn an. Er lächelte zurück. Charlie und ich waren seit über einem Jahr zusammen. Ich liebte ihn über alles. Das redete ich mir jedenfalls ein. Charlies Hand glitt zu meinem Bikini Oberteil, oder besser gesagt, zu dem, was sich darunter befand.rSanft schob ich seine Hand weg. „Nicht hier am Strand", sagte ich. Man sah ihm an, dass er mit der Antwort nicht zufrieden war, dennoch ließ er von mir ab. Das war das Gute an Charlie. Er respektierte einfach alles und jeden. Vielleicht war das auch das Schlechte. Ich brauchte einfach jemanden zum Streiten. Vielleicht war ich auch aggressiv, aber bei Charlie kam ich nie dazu, diese Aggressivität auszuleben. Ich hatte oft das Gefühl, dass in unserer Beziehung die Rollen getauscht waren. Charlie war der Fürsorgliche, der jedem Konflikt aus dem Weg ging. Ich hingegen war draufgängerisch und hatte einen starken Beschützerinstinkt. Oft hatte ich mich schon gefragt, wie unsere Beziehung erhalten blieb, doch ich wusste es nicht. Langsam wurde es kälter. So war das in England nun einmal. Ich stand auf, klopfte den Sand ab und zog mich an. Wir würden sowieso bald aufbrechen. Es war schon spät und wurde allmählich dunkel. Ganz hinten am Horizont sah ich Wolken aufziehen. Regen Wolken. „Willst du schon gehen, Sue?", fragte Charlie. „Naja", sagte ich, „ich bin nicht besonders scharf darauf, im Regen am Strand zu sitzen." Ich zeigte auf den Horizont. „Du hast Recht", seufzte Charlie. Wir packten unsere Sachen zusammen und als wir dann den Strand verließen, schickte die untergehende Sonne gerade ihre letzten Strahlen durch die Wolkendecke. Charlie nahm meine Hand und küsste mich auf die Stirn. Er war so süß. Die Straße lag schon leicht im Dunkeln. „Kommst du noch mit zu mir?", fragte Charlie. „Erst müssen wir nach Hause fahren", erwiderte ich und lächelte. Auch Charlie lächelte. „Ein Jammer, dass ich morgen schon wieder in den Pub muss", klagte ich. Ich mochte den Job nicht, doch ich brauchte das Geld. Demnächst wollte ich mir nämlich ein Motorrad zulegen. Aber meine Mum meinte, dass man so etwas im ersten Semester noch nicht braucht. „Jeder muss arbeiten und wenn ich dir helfen könnte, dann würde ich das tun", erklärte Charlie mitfühlend. „Du bist so süß." Ich hatte das Gefühl, das in letzter Zeit dauernd zu wiederholen. Vielleicht, weil nichts anderes auf ihn zutraf. Charlie war nicht heiß, nicht sportlich, nicht mutig. Er hatte keine dieser typisch männlichen Eigenschaften an sich. Charlie war einfach Charlie. Und ich war einfach nur Sue. Ein Mädchen, bei dem es außer meinen Eltern, Charlie und Sophie und Sarah niemandem auffiel, wenn es verschwand. Vor Charlie hatte ich nie einen Freund gehabt. Den meisten Jungen war ich vermutlich zu maskulin. Aber immerhin war ich kein Weichei. Plötzlich stand ein Mann vor uns. Wie angewurzelt blieben wir stehen. Und dann wurde mir eine Hand vor den Mund gedrückt und ein Messer an die Kehle gepresst. „Geld her", sagte der Mann vor uns. Charlie zitterte. Er hatte Angst. Ich konnte mich jeder Zeit befreien, doch ich tat es nicht. Ich wollte seine Reaktion sehen. Und Charlie tat genau dass, was der Mann, was der Mann von ihm verlangte. Er griff in die Tasche und ich schob die Hand des Mannes weg und schrie: „Nein, gib ihm das Geld nicht!" „Geld her oder sie ist tot." Jeder würde ihm das Geld geben, das war mir klar, dennoch hasste ich Charlie in diesem Moment dafür. Ich hielt es nicht länger aus. Mit voller Wucht keilte ich mein Bein hinter das des Mannes, der mich festhielt und zog es nach vorne. Im gleichen Moment drückte ich sein Handgelenk so fest, dass er das Messer loslassen musste. Ich fing es mit der Hand auf, drehte mich um ihn herum und drückte ihm das Messer an die Kehle. Jetzt hatten wir die Positionen getauscht. Der andere Mann hatte Charlie das Geld aber aus der Hand gerissen und rannte davon. „Wie viel Geld war das?", fragte ich Charlie. „200 Pfund." „Falls du das hier nicht verträgst, sieh lieber weg", warnte ich Charlie. Den Mann, den ich festhielt, schlug ich ein paar Mal vor den Kopf, bis er ohnmächtig wegsackte. Dann fixierte ich den weglaufenden Mann und schleuderte das Messer in seine Richtung. „Hast du ihn umgebracht?", fragte Charlie ängstlich. „Wenn wir Glück haben nicht", erwiderte ich. Ich lief auf den am Boden liegenden Mann zu. Das Messer steckte tief in seinem Arm. Der Mann krümmte sich und stöhnte vor Schmerzen. „Was bist du für ein Wesen?", stöhnte er. Ich lachte. „Ein Mensch. Was sollte ich sonst sein?" „Ein Vampir. Sei froh, dass du keiner bist. Sonst müsste ich dich jetzt leider töten." Da musste ich noch mehr lachen. „Es gibt keine Vampire!", winkte ich ab. Aber das mit dem Töten irritierte mich doch ein wenig. Die Augen des Mannes wurden gelb. Ich hörte auf zu lachen. Ein Knurren drang aus seiner Kehle. Nervös, was als nächstes passierte, beugte ich mich vor und nahm ihm das Geld ab. „Ich rufe jetzt besser einen Krankenwagen", sagte ich. „Nein", keuchte der Mann, „die können nichts für mich tun. Verschwindet hier." „Ich denke, dass sollten wir ernst nehmen", machte sich Charlie bemerkbar. Ich hatte fast vergessen, dass er auch noch da war. Ich nickte, dann machten wir uns auf den Weg zum Auto. Bis London war es noch ein weiter Weg. „Heilige Scheiße, Sue! Wo hast du denn das Messer werfen gelernt?", fragte Charlie. Aus irgendeinem Grund fand ich das irrsinnig komisch und musste lachen. Irgendwann fragte Charlie: „Geht es dir gut? Oder muss ich dir einen Krankenwagen rufen?" „Nein, es geht mir gut." Auf der Fahrt nach London beruhigte ich mich wieder. Als Charlie vor meiner Wohnung hielt, wollte ich ihm einen schnellen Abschiedskuss geben, aber daraus wurde nichts, da er mein Gesicht in seine Hände nahm. Unsere Lippen schienen aneinander zu kleben. Sanft machte ich mich wieder los. Es war doch zu spät geworden, um noch zu Charlie zu gehen. „Okay, bis morgen", verabschiedete ich mich. Ich hatte gerade fast einen Mann umgebracht und hatte einen Ausbruch von Glücksgefühlen. Nicht zu vergessen, dass seine Augen die Farben änderten und er an Vampire glaubte. Ich beherrschte zwar einige Kampfsportarten, aber Messerwerfen gehörte eindeutig nicht dazu. Zu fragen, ob ich das hier träumte brauchte ich nicht, da ich im Traum darüber überhaupt nicht hätte nachdenken können. Das hier war real. Ich hatte den Tod in mir. Und er wollte aus mir heraus. Dafür konnte ich mich nur hassen. Ich betrat meine Wohnung. Die Ruhe war angenehm und ich wurde schläfrig.

The Black AgentsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt