Vortex | 9.11.2011 | 28

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Er war schon früh wach geworden und hatte aus dem Fenster auf die Allee geblickt. Die roten Socken fielen ihm sofort ins Auge. Warum schlief sie da draußen auf dem Baum? Warum sprach sie kaum? Was war mit ihr geschehen, dass sie so auf seine Hilfe reagiert hatte? Und warum trug sie keine Schuhe und ansonsten nur diese zerlumpten Jungenklamotten? Er wollte sie verstehen, vielleicht konnte er ihr ja helfen. Wenigstens bis er wieder drehen musste. Gerade eben hatte er noch eine Mail bekommen, dass der nächste Dreh verschoben wurde, weil die Bücher noch nicht fertig waren, die neue Staffel Sherlock habe Vorrang. Auch gut, da wären die Schreiberlinge mindestens ein paar Wochen beschäftigt. In der Zeit konnte er versuchen, ihr zu helfen. Hoffentlich. Denn diese junge Frau faszinierte ihn auf eine ihm unbegreifliche Art und Weise.
Er trat vom Fenster zurück und sah sich sein Zimmer an. Es war geschmackvoll eingerichtet, aber nicht ganz nach seinem Geschmack. Seine Haushälterin hatte da wohl ihre Finger im Spiel gehabt. Er sollte dringend mal umräumen, vielleicht würde er das auch in den kommenden Tagen hinter sich bringen. Sein Magen grummelte. Aber erstmal Frühstück.
Seine Füße trugen ihn die Treppe hinunter in die Küche, wo Fannie schon herumwuselte. „Guten Morgen, Fanni!" Er gab ihr ein Küsschen auf die Wange und in seinem allgemeinen Schwung landete er direkt vor dem Kessel mit dem Teewasser. „Irgendwelche Neuigkeiten? Ich für meinen Teil bleibe die nächsten Wochen hier, der Dreh ist verschoben worden. Und machen Sie bitte ein paar Sandwiches mehr, ja?" Fannie war die gute Seele des Hauses und hatte auch seine Zimmereinrichtung auf dem Kerbholz. Er schätzte die ältere Dame sehr, sie war eine echte Lady und wusste ganz genau, worauf er Wert legte. Zumindest meistens. „Wie Sie wünschen, Doctor." Sie wirtschaftete weiter in der Küche und er ging derweil durch die Hintertür nach draußen.
Der vertraute Geschmack des Nikotins legte sich auf seine Zunge, als er einen tiefen Zug tat. Seine kreisenden Gedanken beruhigten sich und auch seine Finger hörten auf zu zittern. Er musste sich das unbedingt abgewöhnen, schon vor dem Frühstück zu rauchen. Das war mehr als ungesund. Aber er kam genauso wenig davon los wie von den mindestens sechs Tassen Earl Grey zum Frühstück. Aber die waren okay. Das war nur Tee.
Er drückte die Zigarette an dem Geländer aus und schnippte sie dann weg. Das Holz unter seiner rechten Hand war schon voller schwarzer Flecken von den unzähligen Kippen, denen er hier das Leben ausgehaucht hatte. Gedankenverloren sah er in den Wald hinter der Rasenfläche. Um diese Jahreszeit sah er bei Sonnenschein aus wie ein Van Gogh. Und wieder vernahm er das leise Weinen.

FlashbackWhere stories live. Discover now