Kapitel 1 - Mila's Sicht

27K 695 153
                                    

"Mama.", krächze ich, während wir zum Auto gehen. Mama dreht sich lächelnd zu mir um und nimmt meine Hand. "Was glaubst du, hat der Arzt festgestellt?", frage ich ängstlich. Vor einer Woche, als ich mich nach einer starken Erkältung sehr schlecht gefühlt habe, sind wir zum Arzt gefahren, wo mir Blut abgenommen wurde. Heute werden wir erfahren, was sich im Labor ergeben hat. Mama zuckt mit den Schultern und drückt meine Hand fester. "Keine Ahnung, Kleines, aber es ist bestimmt nichts schlimmes!" Ich schlucke. Sie versucht, beruhigend zu klingen, dabei hat sie selber furchbar große Angst! Zitternd steige ich auf die Rückbank unseres Autos, während Mama sich auf den Beifahrersitz begibt und einen besorgten Blick mit Papa wechselt. "Hört auf euch so anzusehen! Es macht mir Angst!", schmolle ich und schnalle mich an. Papa räuspert sich. "Alles wird gut, Mila." Ich versuche das Thema zu wechseln, bevor ich an meiner Angst ersticke. "Wer kümmert sich eigentlich um Magda?", frage ich so lässig wie möglich. Inzwischen befinden wir uns auf der Landstraße. "Sofia.", antwortet Mama knapp. Magda ist meine 3-jährige Schwester und Sofia meine 12-Jährige Cousine. "Achso.", erwider ich trocken und wende meinen Blick aus dem Fenster. Papa setzt den Blinker, um in eine Einbahnstraße abzubiegen. Hier ist die Praxis, in der wir gleich erfahren werden, was sich wirklich hinter meinem Krank-sein verbirgt. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich langsam die Autotür öffne und aussteige. Sofort ist Papa bei mir und legt mir seinen Arm um die Schultern, wobei er mich fest an sich zieht. "So, meine Große, gleich kommen wir hier glücklich wieder raus und lachen, weil wir uns so unnötige Sorgen gemacht haben!" 'Schön wär's!', denke ich, denn mein Gefühl sagt mir was völlig anderes. Deswegen grinse ich ihn unsicher an. "Worauf wartet ihr?", fragt Mama und zuppelt unruhig an ihrem Blusenkragen herum. Sie steht schon vor der großen Glastür der Praxis. "Wir kommen!", rufe ich und laufe los. Jeder Schritt sticht in mein Herz, doch ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. 5 Minuten später sitzen wir im Wartezimmer und mein Atem geht flach und ungleichmäßig, genau wie die Schläge von meinem Herz. Jedes Mal, wenn die Arzthelferin den Raum betritt und auf ihren Block schaut, um den nächsten Namen aufzurufen, hört meine Welt auf sich zu drehen. Als nach einer gefühlten Ewigkeit mein Name erklingt, schlucke ich und fasse Mama's und Papa's Hände. Dann gehen wir auf die schwere weiße Tür zu, die die Arzthelferin uns lächelnd aufhält. Als ich an ihr vorbeigehe, sieht sie mich einen kleinen Moment lang mitleidig an. In meinen Fingern juckt es. Ich will es jetzt wissen! Im Raum des Doktors stehen drei Stühle bereit, er selber sitzt mit hochgezogenen Augenbrauen und schwer seufzend am anderen Ende des Tisches vor seinem Computer. Wir setzen uns angespannt auf die zugeteilten Stühle, Mama faltet ihre Hände in ihrem Schoß, Papa setzt seine Stirn in Falten und ich sitze einfach nur da und traue mich nicht zu atmen. Es ist so ruhig, dass man die Standuhr ticken hört und die Minuten ziehen sich so in die Länge, bis der Arzt zu reden anfängt. " Leider haben die Blutwerte von Mila überhaupt nichts Gutes ergeben. Im Gegenteil. Die Werte sehen sehr schlecht aus.", setzt er an und ich merke, wie Mama sich neben mir versteift. Für mich bleibt die Zeit stehen, bis der Dok weiterredet. "Nach einigen Tests hat sich dann schließlich ergeben, dass..." Er stockt. Was will er sagen? Welche Krankheit habe ich? 'Nun sag schon!', schreie ich innerlich. Schließlich sagt der Arzt, was ich habe. Und seine Worte hängen einige Zeit in der Luft. Die Worte lauten:"Ihre Tochter hat Leukämie, Blutkrebs."

Immer wieder wiederholt sich dieser Satz in meinem Gehirn. "A-aber, das wird doch wieder in Ordnung, oder? Ein paar Behandlungen, dann legt sich das Ganze, oder?", höre ich mich sagen. Das schlimmste ist, dass der Arzt nicht auf mich einging, sondern sagt:"Ich möchte kurz mit Ihnen allein reden, bitte." und damit meint er meine Eltern. Hustend verlasse ich den Raum und werde direkt von der Arzthelferin abgefangen, die mich sofort in einen kleinen Raum ohne Fenster führt. Dort beginne ich zu schreien und zu heulen. Wie wird es jetzt weitergehen? Nach einer halben Ewigkeit kamen Mama und Papa aus dem Beratungszimmer. Papa hat einige Papiere und einen Flyer in der Hand. Aus Mamas liebevollem Gesicht war jegliche Farbe geschwunden, in ihrer Hand entdecke ich ein zusammengeknülltes Taschen und jetzt bemerke ich, dass sie geweint hat. "Wie geht es weiter?", frage ich leise. Papas starke Arme heben mich von der Liege und stellen mich auf den Boden. "Wir schaffen das. Du musst jetzt nur stark sein." Ich weiß nicht, ob ich seine Worte als beruhigend oder beängstigend empfinden soll. Vielleicht liegt es an seinem besorgten Unterton. Zweifelnd. Ich nicke einfach nur und presse "nach Hause!" hervor. "Ja, Schatz, wir fahren jetzt nach Hause und bald wird alles gut.", antwortet Mama gespielt motiviert und legt mir ihre zitternde Hand auf den Rücken. Was wissen sie, das ich nicht weiß?

"So, jetzt legst du dich einfach mal schlafen, ich meld dich für morgen in der Schule krank, ja? Wir fahren am Wochenende ins Krankenhaus.", meint Mama, als wir zuhause ankommen. Ich wirbel umher. "Warum ins Krankenhaus?", frage ich alamiert. Mamas Gesichtsausdruck wird sehr traurig. "Es ist eine Chemotherapie, Mila." Ich schlucke schwer. Dann hebe ich den Kopf, um ihr in die Augen sehen zu können. "Ist es so ernst?" "Wenn du die Chemo nicht direkt machst, dann... also deine Chancen...", ihre Stimme verebbt. "Dann sterb ich.", schlussfolger ich trocken. Mama seufzt. "Weißt du, Schätzchen, Blutkrebs, also Leukämie, ist... sehr viel schlimmer als... andere Krebsarten. Die Krankheit geht durch dein Blut und so verbreitet sie sich sehr schnell in deinem Körper. Viel schneller als andere. Nur die wenigsten Leukämie-Patienten schaffen das, man kann dagegen wenig tun. Wenn die Chemo nichts hilft, dann... Ach was soll's, ich kann das jetzt nicht sagen." mit den Worten vergräbt sie ihr Gesicht in ihren Händen und fängt laut an zu weinen. In Zeitlupe stehe ich auf und blicke sie an. Mit erstaunlich festem Ausdruck sage ich:"Ich bring das nicht fertig, dich hierzulassen. Ich schaff das. Ich werde wieder gesund." ohne eine Antwort abzuwarten, gehe ich auf mein Zimmer, weil ich jetzt selber weinen muss.

Beim Abendbrot ist die Stimmung am Boden und ich muss die aufkommenden Tränen unterdrücken, als Mama versucht, Magda beizubringen, dass ich totkrank bin. "Magda, die nächste Zeit wird vielleicht sehr schwer. Mila ist böse krank und hat bald keine Haare mehr. Mama und Papa sind jetzt oft traurig und weinen wahrscheinlich sehr viel." "Wann ist Mila wieder gesund?", will Magda wissen und patscht mit der Hand auf ihr Leberwurstbrot. Mama sieht mich lange an. "Vielleicht gar nicht mehr. Wir hoffen bald.", sagt sie in meine Richtung. "Magda, die Krankheit nennt sich Krebs und es ist sehr wahrscheinlich, dass ich bald sterbe. Weil die Krankheit geht durch mein Blut und macht alles nur schlimmer. Es kann sein, dass irgendwann nicht mehr da bin, aber ich versuche, das zu schaffen.", erläuter ich. Dann stehe ich auf, steige die Treppen ins Obergeschoss auf mein Zimmer und lege mich Schlafen. Nun beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Aber in mir beginnt der Lebenswille zu keimen.

Leukämie-mein Leben danachWhere stories live. Discover now