Am See

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A/N: Praise Jesus for this gif.

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Erst auf dem halben Weg durchs Dorf merkte ich, dass Tom mir gefolgt war. Er lief mit einigem Abstand und den Händen hinterm Rücken verschränkt wie ein alter Mann hinter mir her. Genervt stellte ich meinen Rucksack an den Straßenrand und wartete, bis er mich eingeholt hatte.

"Was soll das hier werden?", zischte ich.

"Es wäre wohl unhöflich, als Gast allein im Haus des Gastgebers zu bleiben, während dieser unterwegs ist", säuselte Tom und lächelte.

"Ich wollte eine Runde schwimmen gehen", sagte ich beiläufig, ohne weiter auf ihn zu achten. Vom Straßenrand hob ich meinen Rucksack auf und klopfte die Grashalme ab, die an ihm klebten.

"Ich komme mit", erklärte er, ich hätte am liebsten laut aufgestöhnt.

Es war noch ein kleines Stückchen, bis wir endlich an meinem Lieblingsplatz am See ankamen und manchmal glaubte ich, Tom leise nörgeln zu hören. In meinem Mund formte sich schon die Frage, ob er auch hier gewesen war, als er noch kleiner war, aber sofort erschloss sich mir, dass das vermutlich keine besonders intelligente Frage gewesen wäre. Tom wurde schon in seinem Waisenhaus geboren. Mit wem hätte er hier sein sollen? Mit seinem "minderwertigen Muggel-Vater", den er kurzerhand einfach ermordet hatte? Ein netter Vater-Sohn-Ausflug am Sonntag? Eher nicht.

Erwartungsvoll folgte ich dem engen Pfad durch die dichtstehenden Bäume und trat schließlich auf die Lichtung, auf der der See lag. Die Äste der Weiden hingen an der hinteren Seite in das dunkelgrüne Wasser, hier und da tauchte ein Fisch kurz auf und verschwand dann wieder am Grund. Zu meiner Linken plätscherte der Fluss in den See und brachte frisches Wasser, auf der anderen Seite verließ ein kleines Rinnsal den See wieder.

"Schön hier", kommentierte Tom die Szene, zog sein Jackett aus und ließ sich darauf vor einem dicken Baumstamm nieder.

"Weiß ich", antwortete ich stolz, als sei es mein Verdienst, dass die Natur hier etwas so Schönes, Friedliches geschaffen hatte.

"Ich warte hier." Tom war nun wieder ganz der Teenager, der er ja auch eigentlich war. Er kramte in den Taschen seiner Jacke herum und beförderte schließlich ein kleines Notizbuch heraus. Er schien diese Dinger wirklich gern zu haben.

"In Ordnung." Ohne noch weitere Gedanken zu verschwenden, zog ich mein T-Shirt über den Kopf und schlüpfte aus meiner Hose. Dass Tom mich nackt sehen könnte, störte mich ehrlich gesagt herzlich wenig. Wir waren beide Jungen, was war schon dabei?

Nachdem ich auch meine Unterhose abgestreift hatte, drehte ich mich ein letztes Mal um - nur, um den erstaunten, verwirrten und gleichzeitig überaus zufriedenen Blick von Tom zu treffen, der mich gerade von oben bis unten musterte (#thesniddleismorethanreal).

Ich spürte die Röte in meinem Gesicht aufsteigen, meine Scham war ins Unermessliche gestiegen. Warum hatte er mich so angesehen? Warum hatte er mich überhaupt so angesehen? Er hätte in sein Büchlein schauen und irgendwelche schlauen Dinge oder irgendwelche perfiden Pläne  aufschreiben sollen, aber stattdessen klebten seine Augen noch immer an mir, jetzt an meinem Oberkörper.

"Ist was?", fragte ich betreten.

"Dachte nicht, dass du so aussiehst", krächzte Tom und räusperte sich etwas länger als nötig.

"D-Danke", stammelte ich und drehte mich möglichst schnell um, um mit einem kräftigen Sprung in der Mitte des Sees unterzutauchen, dessen kaltes Wasser mein feuerrotes Gesicht kühlte.

Unter Wasser gab ich mich für eine Weile meinen eigenen Gedanken hin. Das kalte Wasser umspülte dabei meinen Kopf und rauschte angenehm in meinen Ohren. Es war so still und friedlich unterhalb der Wasseroberfläche, dass ich für einen Moment fast vergaß, dass ich unangenehmen Besuch hatte.

Kind Des HimmelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt