Verschwunden

884 63 5
                                    

Niemand machte in dieser Nacht ein Auge zu. Bis um elf in der Nacht war das sowieso ein Ding der Unmöglichkeit, denn Lehrer und Schulpersonal durchforsteten das gesamte Gebäude mehrmals, um sicherzugehen, dass sich das kleine Mädchen nicht irgendwo versteckt hatte. Jeder machte sich riesige Sorgen - mich einbegriffen -, dass der kleinen Mariella (Annabelle wusste, wer das Mädchen war, denn sie hatte ihr erst zwei Tage vorher etwas für Kräuterkunde erklärt) etwas zugestoßen sein konnte. Zwar konnte ich mir nicht vorstellen, was das sein sollte, denn schließlich durften erst Schüler ab der dritten Klasse das Schloss verlassen und der Hausmeister versicherte uns, dass er die ganze Zeit am Portal aufgepasst hatte, wer das Schloss verließ oder betrat. Und ich zumindest glaubte ihm. Er war ein finster drein blickender alter Mann, aber er würde nicht hier arbeiten, wenn es ihm nicht ein bisschen um unser Wohl gehen würde (A/N: Der Hausmeister ist zu dieser Zeit noch nicht Argus Filch, denn dafür ist er zu Harrys Zeit schon ein bisschen zu alt.).

Alleine der Gemeinschaftsraum der Ravenclaws wurde zur Sicherheit dreimal durchsucht, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass es in den Gemeinschaftsräumen der anderen Häuser nicht so war. Doch nachdem jeder Gemeinschafts- und Schlafraum, jedes Klassen- und Lehrerzimmer und jede Schultoilette durchsucht war und Mariella nicht gefunden wurde, brach, gelinde gesagt, Panik aus. Verständlicherweise wollte keiner der Hufflepuffs in ihrem Schlafsaal bleiben, so verteilten sie sich auf die übrigen drei Häuser.

In einer anderen Situation wäre das ein lustiges, abwechslungsreiches Erlebnis gewesen, doch in Anbetracht der Tatsache, dass jemand unter uns vielleicht gerade um sein Leben bangte, wurde die Nacht nicht sehr erholsam für die meisten von uns. Einige der Hufflepuffs waren zu uns gekommen, Annabelle war unter ihnen. Sie setzte sich wortlos neben mich auf die Armlehne des dunkelblauen Sessels, in dem ich saß, und ich strich ihr beruhigend über den Rücken. Unterdessen kamen die Lehrer erneut in unseren Gemeinschaftsraum und suchten nach ihr. Sie benutzen mehrere Zauber und außerdem guckten sie unter jeden Sessel, hinter jedes Bücherregal und in jede dunkle Ecke.

Doch allen Erwartungen folgend und entgegen aller Hoffnungen ließ sich das kleine Mädchen auch diesmal nicht finden. Ich sah Zoe, die neben Jacques auf einem weichen Teppich saß. Sie warf mir durch den beinahe gesamten Raum einen Blick zu, der fast imstande wäre, mich zu töten. Und vermutlich dachte ich das gleiche, was sie dachte. Wir hätten es jemandem sagen sollen. Wir hätten jemandem sagen sollen, was wir über Tom Riddle (Zoe hatte inzwischen herausgefunden, wie er hieß) wussten: nämlich, dass er die Schule von sämtlichen Muggelgeborenen reinigen wollte. Und genau eine solche war Mariella. Und das wiederum bedeutete - wenn man die Informationen hatte, die wir besaßen -, dass sie in ziemlich großer Gefahr schwebte.

Vielleicht war das der Grund, weshalb ich Zoes dritten Todesblick nicht nur mit einem ebenso finsterem, sondern auch mit einem bestimmten Nicken beantwortete. Sie verstand sofort und erhob sich grazil von ihrem Platz auf dem Teppich neben Jacques. Ein letztes Mal ließ ich meine Fingerspitzen über Annabelles Rücken gleiten, bevor ich mich von der Sitzfläche abstieß und aufstand. "Wo wollt ihr denn hin?", fragte Jacques mit Argwohn in der Stimme. Zögernd drehte ich meinen Kopf zu Zoe, in der Hoffnung, aus ihren Augen könnte ich die Antwort lesen. Doch darum musste ich mir keine Sorgen machen.

"Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe einen Wahnsinns-Hunger. Wir gehen mal in die Küche. Will noch jemand was?" Sie bemühte sich um ein Lächeln, das zumindest halbwegs ehrlich aussah und es gelang ihr überraschend gut. Der gesamte Gemeinschaftsraum brummelte seine Ablehnung - was ja auch nicht überraschend war, immerhin hätte ich ebenfalls absolut kein Essen runterbekommen. Das machte es uns um Einiges einfacher, denn somit mussten wir nicht noch wirklich in die Küche gehen und etwas mitbringen. Bevor es sich jemand doch noch anders überlegen konnte, schubste mich Zoe mehr oder weniger aus der Tür. Wir standen kaum draußen, da rannte sie auch schon die Treppen nach unten.

Kind Des HimmelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt